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Dritte Orte

Begegnungsräume in der altersfreundlichen Stadt – Hintergrund und gute Praxis

Für ein gutes Altwerden ist gesellschaftliche Teilhabe von entscheidender Bedeutung. Um sozial eingebunden zu sein und es auch zu bleiben, brauchen ältere Menschen öffentliche Begegnungsorte und -räume in ihrer Kommune, an denen sie Gemeinschaft erfahren und in den Austausch mit anderen treten können – gerade, wenn das Zuhause einsamer geworden ist und auch der Arbeitsort wegfällt.

In einer alternden Gesellschaft sind niedrigschwellige Orte der Begegnung und des intergenerationellen Austauschs wichtig, auch um gesellschaftliche Themen auszuhandeln. In der vorliegenden Untersuchung gehen wir der Frage nach, wie altersfreundliche Kommunen Orte für die soziale und gesellschaftspolitische Teilhabe Älterer gezielt fördern können. Wie können Kommunen dafür Sorge tragen, dass solche Orte neu entstehen und solche erhalten bleiben, die bereits da sind? Wir nutzen den Begriff Dritte Orte – Third Places, der auf den amerikanischen Soziologen Ray Oldenburg zurückgeht. Er beschrieb damit Begegnungsorte jenseits des eigenen familiären Umfelds und des Arbeitsplatzes. Wir zählen dabei eine Vielfalt verschiedener Häuser, Räume, Plätze und Projekte zu Dritten Orten. Darunter fallen für uns unter anderem soziale Orte, Sportstätten, Kultur- oder Bildungseinrichtungen. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und den veränderten Ansprüchen der ins Alter kommenden Babyboomer gegenüber früheren Alterskohorten sollten Dritte Orte nicht nur das individuelle Wohlbefinden und die Gemeinschaft fördern, sondern auch das lebenslange Lernen und den Erwerb neuer Fähigkeiten unterstützen. So können niedrigschwellige Begegnungsorte etwa die Engagementbereitschaft von Älteren fördern, die aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind – wovon ein Quartier, eine Kommune und die Gesellschaft im Ganzen profitieren kann. Mit Blick auf angespannte Haushaltslagen und eine lange Liste pflichtiger Selbstverwaltungsaufgaben stehen die Schaffung und Instandhaltung Dritter Orte nicht immer ganz oben auf den Prioritätslisten der Kommunen. Aber viele herausragende lokale Praxisbeispiele zur Gestaltung und Nutzung von Begegnungsorten für Ältere zeigen: die Innovationskraft für die Gestaltung altersfreundlicher Umgebungen in den Kommunen wächst. An Dritten Orten wird sie sichtbar.

Dritte Orte – Begegnungsräume in der altersfreundlichen Stadt

Menschen brauchen Gemeinschaft und Begegnung. Jede altersfreundliche Kommune braucht Orte dafür.

Neue Altersgenerationen wollen Freiraum für offenen Austausch und kreative Ideen.

Dritte Orte sind Treffpunkte für die lokale Gemeinschaft – egal ob Häuser, Institutionen oder Plätze im öffentlichen Raum.

Dritte Orte leben vom Engagement Älterer – und ältere Engagierte von Dritten Orten.

Dritte Orte und warum sie im Alter wichtig sind

Den Beitrag können Sie hier in einer Zusammenfassung lesen.
Für die Fußnoten, z. B. [6], und Verweise auf Bildinhalte ziehen Sie bitte die PDF-Version heran: Download (PDF)

Mit dem Ende der Erwerbstätigkeit fallen die Kontakte am Arbeitsort weg. Wenn gleichzeitig das Zuhause einsamer wird, muss es andere Orte für Begegnungen geben.

Wenn die Einsamkeit zunimmt

Menschen brauchen Gemeinschaft. Ohne soziale Beziehungen und Austausch mit Mitmenschen drohen Einsamkeit und soziale Isolation. Und dieser Austausch braucht Orte. Der amerikanische Soziologe Ray Oldenburg unterschied 1989 verschiedene Orte der Begegnung: Der erste Ort ist demnach das eigene Zuhause, das die Menschen mit Partner:in, Familie oder Mitbewohner:innen – so vorhanden – teilen. Der zweite Ort ist die Arbeitsstelle, wo Berufstätige mit Kolleginnen und Kollegen zu tun haben. Dritte Orte bieten einen Ausgleich zu beidem: Es sind Treffpunkte für die lokale Gemeinschaft (siehe Kasten S. 5).

Einsamkeit und soziale Isolation drohen insbesondere älteren Menschen und vor allem jenen unter ihnen, die allein leben (siehe Grafik S. 3)[1]. Dabei gilt es zu trennen: Mit Einsamkeit ist eine subjektive, meist negativ empfundene Erfahrung gemeint. Als soziale Isolation wird dagegen ein objektiver Mangel an gesellschaftlichen Kontakten definiert, den die Betreffenden als schmerzlich wahrnehmen können. Das bedrückende subjektive Gefühl einsam zu sein kann auf Dauer die Gesundheit beeinträchtigen. Umgekehrt können gesundheitliche Einschränkungen und ein niedriger sozioökonomischer Status die wahrgenommene wie auch die objektive Vereinsamung verstärken [2].

Einsamkeit ist nicht nur eine persönliche Erfahrung, sondern auch eine gesellschaftliche Herausforderung. Mit der Alterung der großen Babyboomergeneration steigt die absolute Zahl der von Einsamkeit gefährdeten Älteren.

Wenn Geld und Netzwerke fehlen

Altern an sich erhöht nicht das Risiko für Vereinsamung. Vielmehr sind es die biografisch bedingten Verluste der ersten und zweiten Orte im Zuge des Älterwerdens. Der erste Ort, das angestammte Zuhause, ist zwar noch da. Es kann sich aber nach dem Auszug der Kinder, nach einer Trennung oder dem Tod des Partners leer anfühlen. Wenn ein solcher Einschnitt mit einem Aus- oder Umzug verbunden ist, gilt es in neuer Umgebung erst einmal Kontakte zu knüpfen. Abhängig vom biografischen und sozioökonomischen Hintergrund kann das im fortgeschrittenen Alter schwerer fallen als noch in jungen Jahren.

Der zweite Ort fällt mit dem Ende der Erwerbstätigkeit tatsächlich weg. Das bringt einerseits neue Freiheiten mit sich. Andererseits wirft es „Neu-Rentner:innen“ erst einmal auf sich selbst und auf die eigenen vier Wände zurück, in denen ihnen die sprichwörtliche Decke auf den Kopf fallen kann. Umso mehr, wenn die Rente knapp ausfällt und weitere Einkommensquellen fehlen (siehe Grafik S.4). Doch selbst wenn das Geld reicht: In Rente zu gehen, erzeugt bei manchen das Gefühl, in einer ökonomisch geprägten Gesellschaft wertlos geworden zu sein. Dazu tragen negative Altersbilder bei, die sich beharrlich halten ‒ und sich wiederum negativ auf das Selbstbild und das Gefühl der Selbstwirksamkeit Betroffener auswirken können [9]. In jedem Fall dürften Menschen, die nicht schon länger regelmäßige Kontakte und Freundschaften über die Arbeit hinaus gepflegt haben, es im Rentenalter schwer haben, sich aus dem Stand ein neues soziales Netzwerk aufzubauen.

Was bedeutet Dritter Ort?

Den Begriff hat der amerikanische Stadtsoziologe Ray Oldenburg (1932‒2022) geprägt. In seinem Buch „The Great Good Place“ fasste er 1989 schon im Untertitel zusammen, was er unter „Third Places“ verstand: Neben dem Zuhause als dem Ersten und dem Arbeitsort als dem Zweiten Ort waren das für ihn „Cafés, Coffee Shops, Buchläden, Bars, Friseursalons und andere Treffpunkte im Herzen eines Gemeinwesens“ [12].

Ausgangspunkt für Oldenburg war die typische Struktur urbaner Räume in den USA: zentralistisch geplante Städte mit ausgedehnten Vororten, die nur per Auto erreichbar sind. Die Bewohner:innen fahren morgens zur Arbeitsstätte und abends zurück in ihr Zuhause. Die Wege von Nachbarn oder Bekannten kreuzen sich nur selten. Oldenburgs Ideal waren europäische Städte mit lebendigen Quartieren, wo sich die Menschen regelmäßig und zwanglos treffen: in England etwa im Pub, in Italien in der Lieblingsbar oder in Bayern im Biergarten [13].

Breit gefasste Definition

Heute verstehen Wissenschaftler:innen und Praktiker:innen in verschiedenen Ländern unter Dritten Orten ganz unterschiedliche Dinge [14]. Manche Träger von Nachbarschaftshäusern oder anderen Treffpunkten hierzulande kennen den Begriff gar nicht. Die Stadtsoziologin Sabine Meier von der Hochschule Rhein-Main in Wiesbaden definiert Dritte Orte sehr weit als Räume oder Plätze, die es vielen Besucher:innen ermöglichen, sich dort zwanglos zu begegnen und auszutauschen, auch ohne festes Programm und Konsumzwang [15]. Die Soziologin Claudia Neu von der Georg-August-Universität Göttingen trennt zwischen Dritten Orten nach Oldenburgs Verständnis, also beispielsweise Kneipen oder Friseurläden, und „Sozialen Orten“ [16]. Darunter fasst sie Orte der Begegnung, Mitwirkung und Zukunftsgestaltung, wo Menschen jeden Alters gemeinsam Ideen entwickeln, um lokalen wie auch globalen Herausforderungen zu begegnen. Konkret kann es beispielsweise darum gehen, leerstehende Gebäude zu neuen Dorftreffpunkten zu entwickeln [17].

Wissenschaftliche Studien zu Dritten Orten besonders für Ältere respektive ihrer Bedeutung für Ältere sind kaum zu finden. Und die wenigen existierenden picken oft spezifische Aspekte heraus oder beziehen sich auf eine bestimmte Region.

Im Kontext der vorliegenden Untersuchung, die den Fokus auf Ältere legt, haben wir den Begriff daher auf eine Vielfalt verschiedener Orte, Häuser, Räume, Plätze und Projekte angewendet. Dabei bleiben die Kriterien, die Ray Oldenburg einst für Dritte Orte festgelegt hat, weiterhin bedeutsam. Wir haben sie aber ergänzt: Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und den veränderten Ansprüchen der alternden Babyboomer sollten Dritte Orte nicht nur das individuelle Wohlbefinden und die Gemeinschaft fördern, sondern auch das lebenslange Lernen und den Erwerb neuer Fähigkeiten unterstützen [18].

Was Dritte Orte für Ältere leiste können

Quartiertreffs, Dorfgemeinschaftshäuser oder Vereine eröffnen viele Möglichkeiten, sich am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. Zudem fördern sie freiwilliges Engagement und lebenslanges Lernen. Letztlich erhöhen sie die Lebensqualität im Alter und dienen somit auch dem Gemeinwohl.

Soziale Teilhabe ermöglichen

Unter Partizipation ist nach einer Formulierung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO) „die aktive Beteiligung von Menschen am politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Leben“ zu verstehen. Sie bildet demnach „die Basis der Demokratie und Grundlage zur Entfaltung und Nutzung individueller Potenziale und Ressourcen“. Ob und in welchem Umfang sich eine Person aktiv am gesellschaftlichen und politischen Leben beteiligt, hängt von der persönlichen Situation und der eigenen Bereitschaft dazu ab. Zudem müssen Organisationen und Institutionen vorhanden sein, die Teilhabe ermöglichen und fördern [20].

Konkret kann Teilhabe vieles umfassen. Sich auf einen Kaffee oder ein Glas Wein zu treffen gehört ebenso dazu wie an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Weitere Beispiele: im Verein Sport treiben, ein Hobby pflegen, sich für den Umweltschutz einsetzen, sich weiterbilden oder eigenes Wissen mit anderen teilen, im Gemeinderat mitmachen oder in einer Initiative neue Ideen entwickeln.

Die Bedeutung Dritter Orte, die all das und noch viel mehr ermöglichen, nimmt gerade für Ältere zu. Eine Vielzahl von Studien belegt, dass Begegnungen und soziale Teilhabe förderlich sind für gutes Altern und langes Leben, für das seelische Wohlbefinden und die Gesundheit [21].

Vereinsamung vorbeugen

Letztlich hängt es von der Initiative der einzelnen älteren Person ab, ob sie aus dem Haus geht und sich auf ein Miteinander einlässt, sei es im Café, sei es im Mehrgenerationenhaus oder Seniorenclub. Niemand weiß genau, wie viele Ältere zuhause sitzen und sich nicht unter andere Menschen mischen – und sich für ihr Alleinsein vielleicht sogar schämen. Manche Trägerorganisationen bemühen sich jedoch, diese Menschen aus ihrer Isolierung zu holen, zum Beispiel, indem sie Hausbesuche oder Telefonkontakte anbieten.

In Hannover versucht die Arbeiterwohlfahrt (AWO) mit Straßenaktionen in zwei Quartieren niedrigschwellige Beratung anzubieten, auf Angebote für ältere Menschen aufmerksam zu machen und darüber hinaus Ehrenamtliche für Aufgaben im Sinne einer lebenswerten Nachbarschaft zu rekrutieren. Seit Anfang 2023 baut eine AWO-Mitarbeiterin alle zwei Wochen an anderer Stelle einen mobilen Stand auf. Sie hat Mineralwasser, Kaffee und Hocker dabei und verteilt Flyer an ältere Passant:innen.

Engagement im Alter unterstützen

Gerade für Ältere, die noch fit sind, kann freiwilliges Engagement sinnstiftend wirken. Und sie erfüllen mitunter Aufgaben, welche die Gesellschaft ansonsten kaum noch bewältigen kann, zum Beispiel indem sie hilfsbedürftige ältere Menschen unterstützen [22]. Bis zur jüngsten Erhebung des Deutschen Freiwilligensurveys 2019 ist der Anteil freiwillig Engagierter an der Bevölkerung ab 14 Jahren insgesamt gestiegen. In der Altersgruppe ab 65 Jahren hat die Engagementquote in dieser Zeit am deutlichsten zugelegt. Das hohe Engagement der Altersgruppe 50 bis 64 Jahre, darunter die Babyboomer, birgt Potenzial für die Zukunft (siehe Grafik unten)[23].

Die Dritten Orte, die wir in den folgenden Kapiteln beschreiben, könnten ohne freiwillig Engagierte kaum existieren. Ob Mehrgenerationenhaus, Soziokulturzentrum oder Quartiertreff, es sind vorwiegend Ehrenamtliche, die Kurse anbieten, Gruppentreffen oder Veranstaltungen, Filmvorführungen oder Vorträge organisieren. Viele von ihnen sind schon im Rentenalter oder stehen kurz davor. Auf einen Nenner gebracht heißt das: Dritte Orte leben vom Engagement Älterer ‒ und ältere Engagierte brauchen Dritte Orte.

Lebenslanges Lernen ermöglichen

Viele Dritte Orte dienen auch der Bildung und dem lebenslangen Lernen, ob Stadtteilbibliothek, Volkshochschule oder Computerclub von und für Senior:innen. Das gilt ganz allgemein, wenn dort Kurse, Vorträge und Gesprächsrunden angeboten werden, wobei von Ernährung und Bewegung über Kultur bis Politik alles möglich ist. Es gilt im Kontext der vorliegenden Untersuchung besonders auch für Orte, an denen Rentner:innen berufliche Fähigkeiten oder fortgeschrittene Kenntnisse an andere, auch Jüngere weitergeben – oder sich umgekehrt von Jüngeren den Umgang mit Computern zeigen lassen. Das gegenseitige Lehren und Lernen zwischen den Generationen könne „in seiner Bedeutung für die Lebenszufriedenheit im Alter nicht hoch genug geschätzt werden“, sagt der Heidelberger Gerontologe Andreas Kruse [24].

Integration und demokratischen Diskurs voranbringen

Soziale Ungleichheit bringt es mit sich, dass in Cafés und anderen kommerziellen Orten nicht alle in zwanglosen Kontakt miteinander treten können. Begegnungs- und Nachbarschaftshäuser stehen dagegen allen offen und es kostet meist wenig oder gar nichts, sich dort aufzuhalten oder an Aktivitäten zu beteiligen. Solche Orte ermöglichen auch das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen, verschiedener Generationen und Meinungen.

Interkulturelle Angebote von Begegnungshäusern können dazu beitragen, Vorurteile abzubauen [25].

Was ist auf dem Land anders als in der Stadt?

Die urbane Verdichtung macht es für Verwaltungen, Stadtplaner:innen oder freie Trägerorganisationen lohnend, Dritte Orte in den Quartieren zu schaffen respektive dauerhaft zu betreiben: In der unmittelbaren Umgebung leben relativ viele potenzielle Nutzer:innen wie auch Aktive. Deren Wege sind kurz und der öffentliche Nahverkehr sorgt meist eng getaktet für eine gute Anbindung.

Im ländlichen Raum dienen dagegen häufig Dorffeste als beliebte Treffpunkte. Vereine sind die erste Anlaufstelle für Begegnung, Freizeit und gemeinsame Hobbies. Ebenso wie ländliche Kultur- oder Dorfgemeinschaftshäuser können sie aber nur bestehen, weil freiwilliges Engagement vielerorts immer noch als quasi selbstverständlich gilt [31]. Doch Alterung, Mangel an Geld und Personal in allen Bereichen haben zur Folge, dass viele dieser Orte und Angebote wegbrechen.

Für Ältere kommt erschwerend hinzu, dass auf dem Land die Wege im Allgemeinen weit sind und die Busse viel zu selten fahren, um ohne Auto von zuhause wegzukommen. Das dörflich-nachbarschaftliche Miteinander schwächelt, wo viele wegziehen oder zur Arbeit pendeln und erst abends müde zurückkehren. Wer sich einsam fühlt, hat es auf dem Land somit schwere

Große Vielfalt

Eine Übersicht an guten Praxisbeispielen offenbart das breite Spektrum möglicher Typen Dritter Orte, die sich auch oder besonders für Ältere eignen. Solche Begegnungsorte müssen gar nicht immer neu erfunden werden. Bestehende Orte sollten aber kreativ genutzt werden.

Gaststätten und Geschäfte

Bäcker und Supermärkte mit Kaffee-Ecke, Cafés oder Kneipen sind Orte der Begegnung. Studien aus Kanada und den USA haben ergeben, dass sich Senior:innen in Städten dort gerne in Shopping Malls aufhalten, weniger zum Einkaufen als vielmehr zum zwanglosen Zusammensein. Denn die überdachten Konsumwelten sind offen und barrierefrei zugänglich, sie bieten gute Beleuchtung und bequeme Sitzgelegenheiten, somit beste Voraussetzungen für die Pflege sozialer Kontakte [32]. Ein Wissenschaftler der Universität von Hawaii hat eine Gruppe Älterer beobachtet, die sich seit Jahren regelmäßig mehrmals wöchentlich in einem Schnellrestaurant in Honolulu zum lockeren Austausch trafen. Der Forscher wollte wissen, warum die Gruppe – mit einem Durchschnittsalter von 73 Jahren – sich in einem öffentlichen Lokal treffe und nicht in einem Seniorenzentrum, wo sie unter ihresgleichen wäre. Einhellige Antwort: Weil die für alte Leute seien [33].

In Deutschland gibt es eine große Vielfalt unterschiedlicher Lokale für fast jeden Geldbeutel und Anspruch. Allerdings sinkt die Zahl der Betriebe im Gaststättengewerbe seit Jahren, im Zuge der Corona-Lockdowns ist sie deutlich zurückgegangen [34]. Vor allem aber sind die Preise in der Gastronomie seit Anfang 2020 massiv gestiegen. Der Verzehr einer Hauptspeise war Anfang 2023 rund 20 Prozent teurer geworden [35]. Das ist für manche eine Zugangshürde.

Auf dem Land bietet mancherorts noch eine traditionelle Gastwirtschaft Gelegenheit zusammenzusitzen, am Stammtisch, bei gemeinsamen Essen, Vereinstreffen oder Veranstaltungen im Saal. Gerade in ländlichen Gegenden sind daher häufig Klagen zu hören, wenn die letzte Wirtschaft aus ­Alters- oder betriebswirtschaftlichen Gründen schließen musste [36].

Initiativen für mehr Altersfreundlichkeit

Das Zertifikat „seniorengerechte Gaststätte“, das der Stadtseniorenbeirat im baden-württembergischen Weinstadt seit 2014 regelmäßig verleiht, liefert zumindest einen Hinweis darauf, welche gastronomischen Einrichtungen sich besonders gut für Ältere eignen. Von den geprüften Gaststätten erhalten jene das Siegel, die folgende Kriterien erfüllten: gut lesbare Speisekarte, kleinere Portionen, ein preiswertes Tagesgericht, ein preiswertes nichtalkoholisches Getränk, freundliches und vor allem geduldiges Service-Personal und warmes Essen auch mittags. Beim jüngsten Test im Mai 2023 genügten 31 gastronomische Betriebe diesen Anforderungen. Für 18 davon gab es ein zusätzliches Zertifikat für Barrierefreiheit. Bei der Übergabe der Urkunden bedankte sich der Oberbürgermeister für diesen Beitrag zur gesellschaftlichen Teilhabe Älterer [37].

In Großbritannien sind seit 2017 rund 440 Filialen einer großen Kaffeehaus-Kette sowie weitere Cafés an das „Chatty Café Scheme“ angeschlossen. Das gelbe Logo des Sozialunternehmens an ihrem Fenster sowie an einzelnen Tischen signalisiert, dass dort ausdrücklich „Chatter and Natter“ mit Unbekannten erwünscht ist, also Schwatzen und Plaudern. Das kann sich auf die fünf Minuten beschränken, bis der Kaffee ausgetrunken ist. Es darf aber ruhig sein, dass sich daraus ein längeres Gespräch entwickelt. Das Angebot richtet sich nicht spezifisch an Ältere, es soll generell sozialer Isolierung entgegenwirken [38]. Manche Supermärkte haben „Plauderkassen“ eingerichtet. Dort steht nicht das möglichst schnelle Bezahlen und Weitergehen im Vordergrund, viel mehr ist ein kleiner Schwatz mit anderen Kund:innen oder dem Personal erlaubt. Die Idee stammt aus den Niederlanden, bereits übernommen haben sie Märkte in Bayern, etwa in Schweinfurt oder in Buxheim bei Memmingen. Im lokalen Dialekt heißt es dort „Ratschkasse“ [39] .Es geht aber auch im Wohnumfeld und selbstorganisiert. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend führt eine ganze Reihe nachahmenswerter Ideen und Projekte für Kontakte und Begegnungen auf, die im Rahmen des Programms „Zuhause im Alter“ entstanden sind. Das reicht von der Aktion „Stühle raus!“, bei der sich Anwohner:innen spontan mit einem mitgebrachten Stuhl zum Kaffeetrinken auf der Wiese trafen, bis zu generationen- und kulturübergreifenden Mittagstischen [40].

Die Neuerfindung der Bücherei

Bibliotheken müssen sich umorientieren. Denn gewohnheitsmäßige Leser:innen werden seltener, vor allem in den jüngeren Generationen. Die Ausleihe erfolgt vermehrt online. Texte liegen zunehmend digitalisiert vor, sodass Nutzer:innen den realen Standort oft gar nicht mehr aufsuchen müssen. Und das Streamen von Musik und Filmen hat den Verleih einst moderner Medien obsolet gemacht. Der Ausweg: Bibliotheken öffnen sich und werden zu „Palästen des Volkes, die dem Gemeinwesen Stabilität verleihen“, wie es in einem Beitrag der US-Denkfabrik American Enterprise Institute etwas pathetisch heißt [41].

In den USA, den Niederlanden und Nordeuropa verstehen sich bereits viele Bibliotheken ausdrücklich als Dritte Orte – und erschließen so neue Nutzergruppen aller Generationen [42]. Nach Um- oder Neubauten verwandeln sie sich über die Ausgabe und Rücknahme von Medien hinaus zu Treffpunkten ohne Konsumzwang, zu Foren für Lesungen oder Vorträge und noch weit mehr. Modellhaft dafür steht unter anderem „Oodi“, die Zentralbibliothek von Helsinki, die sich als Living Meeting Place der Stadtgesellschaft versteht (siehe S. 12).

Für den niederländischen Architekten Aat Vos ist klar, dass auch bisher eher exklusive Kulturstätten zu inklusiven Dritten Orten werden können. Vos hat sich darauf spezialisiert, Bibliotheken als neue städtische „Wohnzimmer“ ganzer Quartiere und zum Lieblingsplatz für Menschen aller Altersgruppen zu konzipieren [43]. Zentral sei dabei, die Bürger:innen von Anfang an einzubinden. Es gelte nicht nur ihre Bedürfnisse und Ansprüche an die Räumlichkeiten zu erfragen, sondern sie auch bei der Entwicklung des Angebots zu beteiligen [44]. Auch in Deutschland hat er bereits Dritte Orte realisiert, etwa durch den Umbau eines ehemaligen Flugplatztowers zur Stadtteilbibliothek Würzburg-Hubland und beim Umbau der Bücherei im Kölner Stadtteil Kalk [45].

Auch anderenorts erfinden sich Bibliotheken vermehrt als Dritte Orte und „Plattformen gesellschaftlicher Teilhabe“ neu, als Lernorte und Informationszentren mit hoher Aufenthaltsqualität [46]. Viele Häuser hierzulande verfügen allerdings nicht über ein ausreichendes Budget, um sich entsprechend aufzustellen [47]. Die Kulturstiftung des Bundes hat daher von 2018 bis 2022 mit dem Programm „hochdrei“ die Transformation von Stadt- und Gemeindebibliotheken zu Dritten Orten gefördert [48]. Der Deutsche Bibliotheksverband hat mit dem Soforthilfeprogramm „Vor Ort für Alle“ von 2020 bis 2023 bundesweit Bibliotheken in ländlichen Regionen dabei unterstützt, sich zu attraktiven Begegnungsstätten zu entwickeln und so „einen Beitrag zu gleichwertigen Lebensverhältnissen zu leisten“. Denn als niedrigschwellige konsumfreie Orte bieten Bibliotheken für alle Menschen Zugang zu Bildung und Kultur [49]. Der Verband strebt außerdem an, Bibliotheken auch sonntags für das Publikum zu öffnen [50]. Bis dato haben etwa 20 öffentliche Bibliotheken in Deutschland auch am Wochenende geöffnet. Dabei sei der Sonntag am stärksten besucht [51].

Hamburg: Literatur verbindet

Dass Lesen bildet, ist unumstritten. Dass es aber auch verbinden kann, zeigen die Bücherhallen Hamburg an ihren Standorten, die über die Stadt verteilt und auch am Sonntag geöffnet sind. Speziell für ältere Menschen werden literarische Spaziergänge, Vorlesenachmittage und Lesecafés angeboten. Das sind Treffs für Literaturinteressierte, die über ein zuvor gelesenes Buch diskutieren. Lesen ist dann keine stille Einzelbeschäftigung mehr, sondern ein Gemeinschaftserlebnis, das zum Austausch mit anderen anregt.

Dank ehrenamtlicher Medienboten können auch Menschen mit eingeschränkter Mobilität die Angebote der Bücherhallen nutzen. Sie versorgen Pflegeeinrichtungen und Privathaushalte mit Medien und kümmern sich vor Ort um gemeinschaftliches Lesen. Auch Vorlesen ist möglich und wird gerne mit einem Klönschnack verbunden [52].

Das Programm „Silber & Smart“ rundet das Angebot ab. Menschen ab 60 Jahren, die noch nicht digital unterwegs sind, können sich im Umgang mit Internet, Smartphone und Tablet schulen lassen oder Rat holen. Entweder analog, in kleinen Gruppen oder Einzelberatung bei den Bücherhallen im Quartier, durch Ehrenamtliche zuhause, oder aber in digitalen Treffs per Videokonferenz. 2022 haben über 1.100 ältere Menschen an insgesamt 200 Einzel- und Gruppenschulungen teilgenommen [53].

Wo Ältere unter sich bleiben können

Dritte Orte stehen in der Regel Menschen allen Alters offen. Es gibt aber auch Begegnungsräume nur für Ältere – und nicht nur die klassischen Seniorentreffs. Auch solche Räume werden gebraucht.

Unterschiedliche Bedürfnisse

Die meisten der bisher beschriebenen Dritten Orte richten sich nicht ausdrücklich an Ältere. Sie stehen allen offen. Dennoch sollte es auch Orte geben, die es Älteren ermöglichen, sich in einer vertrauenswürdigen und geschützten Atmosphäre unter ihresgleichen zu treffen. Hier können sie Interessen oder Hobbies nachgehen, für die sich Jüngere nur selten interessieren. Vor allem aber ist die Hemmschwelle niedriger, altersspezifische Themen zur Sprache zu bringen. Das trifft auch für Senior:innen mit Migrationshintergrund, anderer religiöser Zugehörigkeit als in der Mehrheitsgesellschaft oder diverser sexueller Orientierung zu: Sie brauchen Schutzräume, um sich ungestört auszutauschen [97]. Ein Klassiker ist der „Seniorentreff“, den es fast überall in vielerlei Ausprägungen gibt, initiiert und betrieben von Kommunen, Kirchengemeinden, Wohlfahrtsverbänden oder privaten Initiativen. Selten ist dafür ein eigener Raum oder spezielles Gebäude vorgesehen. Seniorentreffs an Nachmittagen gehören meist zum Programm von Orten für verschiedene Altersgruppen. Das Angebot spricht erfahrungsgemäß eher „alte Alte“ an. Häufig sitzen sie bei Kaffee und Kuchen zusammen und tauschen sich mit anderen aus. Als Sahnetupfer gibt es manchmal noch ein kleines Kultur- oder Informationsprogramm oder einen Ausflug.

Mülheim an der Mosel: Alter ist auch Einstellungssache

Als das „Café für Junggebliebene“ in Mülheim an der Mosel 2006 aus der Taufe gehoben wurde, hieß es noch Seniorencafé. Es ist keine feste Gaststätte, sondern ein Angebot des Vereins Kulturkreis Mülheim. Es poppt alle drei Monate in der kleinen Festhalle der Gemeinde auf. Den Kuchen bringen die Gäste selbst mit, es wird geklönt und gesungen. Einmal im Monat lädt der Verein Senior:innen zum Mittagstisch mit Leckereien zum kleinen Preis. Über das Jahr verteilt bietet er auch Veranstaltungen und Ausflüge. Mobilitätseingeschränkte Menschen können sich holen und zurückbringen lassen. Wenn sie nicht mehr aus dem Haus gehen können, ist es auch möglich, dass Ehrenamtliche mit Bollerwagen Kaffee und Kuchen vorbeibringen. 2021 wurde das ehrenamtliche Engagement mit dem AOK-Förderpreis „Gesunde Nachbarschaften“ ausgezeichnet. Dieser würdigt partizipative und nachhaltige Projekte, die das Miteinander im Wohnumfeld fördern [98].

Der Seniorentreff ist ein Auslaufmodell. Selbst über 80-Jährige weisen mitunter solche Treffen von sich, wie die Leiterin eines Begegnungszentrums in Hannover berichtet: „Sie sagen mir, die seien ja für Alte.“[99] Insbesondere die Babyboomer-Jahrgänge, selbst wenn sie schon in Rente sind, identifizieren sich ungern als „Senior:innen“. Für viele fallen erst Hochaltrige unter diesen Begriff, die gebrechlich sind und sich eher passiv verhalten. Die „jungen Alten“ fühlen sich hingegen im Allgemeinen fit und wollen mit anpacken (siehe S. 20).

Seniorentreff 2.0

Viele Bürgerhäuser und soziokulturelle Zentren in Stadt und Land haben sich auf die gewandelten Ansprüche und Vorstellungen eingerichtet. Das heißt, sie machen nicht nur Angebote, die über gemütliches Zusammensitzen hinaus Kreativkurse, Kinoabende bis hin zu gemeinsamen Wander- oder Fahrradtouren umfassen können. Sie laden auch dazu ein, sich zu engagieren, also selbst Kurse oder Veranstaltungen anzubieten, ein Café zu bewirtschaften, sich um Kinder oder Hochaltrige zu kümmern und vieles mehr. Hier und da entstehen Dritte Orte, Clubs oder Vereine, die sich speziell an Ältere richten, aber mit innovativen Konzepten, manchmal auch unter alternativen Namen für frischen Wind sorgen. Was solche Orte ausmacht, lässt sich am besten an praktischen Beispielen darstellen. Ein beeindruckendes Modell ist das „Kosmos space“ in Basel (siehe Kasten unten). Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen hat 2021 in einer Broschüre eine bunte Palette von Initiativen und Projekten aufgeführt, die zeigen, wie viel Fantasie und Einsatz im Spiel ist, wenn es darum geht, die gesellschaftliche Teilhabe Älterer zu sichern [100]. Auch bei den Mitgliedsorganisationen des Dachverbandes BAGSO finden sich inspirierende und nachahmenswerte Beispiele Dritter Orte von Älteren und für Ältere, von A wie Alevitische Gemeinde Deutschland bis Z wie „Zwischen Arbeit und Ruhestand“ (ZWAR) [101].

Basel: Raum für Aktive ab 60

Die Idee entwickelte Daniela Finke, nachdem ihre Mutter ins Altenheim umgezogen war. „Sie war betagt, aber geistig fit“, sagt Finke: „Sie hätte einen Lesekreis gründen oder einen Kurs anbieten können. Doch nur mit Serviettenfalten konnte sie ihre Ressourcen nicht mehr ausleben. So hat sie schnell abgebaut.“ Wie können Menschen im Alter ihre Autonomie wahren? Diese Frage trieb die Medizinprofessorin fortan um. Es gebe viele Angebote, „aber bei den meisten bleibt man passiv“. Die vergebliche Suche nach Orten, an denen Ältere selbst etwas anbieten können, führte schließlich zur Gründung des gemeinnützigen Vereins „Kosmos space“, der seit 2021 ein Haus am Stadtrand von Basel betreibt. Das dreigeschossige Gebäude aus den 1920er Jahren beherbergte bis 2007 das Astronomische Institut der Universität Basel. Heute dient es „als Treffpunkt und als Ort, wo Menschen in der dritten Lebensphase ihren Ruhestand aktiv (mit-)gestalten können“. Kernstück des Kosmos space sind die „Schaffens- und Erlebensräume“, die Personen ab 60 Jahren für eigene Initiativen und Aktivitäten nutzen können. Sie können dort ihr Wissen und erworbene Fähigkeiten an andere ‒ auch Jüngere ‒ weitergeben, einem Teilzeitjob nachgehen oder ein gemeinsames Hobby pflegen. Auf dem Dachboden trifft sich regelmäßig eine Gruppe von Männern, um an einer Modelleisenbahnanlage zu bauen. Im Obergeschoss gibt eine Ruheständlerin Yoga-Kurse. Eine 82-Jährige bietet sich als Coach für Tastaturschreiben sowie für Deutsch in Sprache und Schrift an. Ein Gitarrenbauer hilft beim Reparieren der Instrumente und erteilt Unterricht. Im Keller haben drei Künstlerinnen ihr Atelier. In der gut ausgestatteten Werkstatt stehen pensionierte Profis allen, die mit Holz basteln, bauen oder ausbessern wollen, ehrenamtlich mit Rat und Tat zur Seite. Im Erdgeschoss gibt es ein Zimmer zum Lesen und gemütlichen Zusammensitzen, einen Saal für Filmvorführungen, Vorträge oder private Feste. Dort befindet sich auch das öffentlich zugängliche Café „Magnolia“. Bei der Bewirtung im idyllischen Garten arbeiten teilweise auch Kosmos-Vereinsmitglieder mit. Der Nutzungsvertrag für das Haus ist befristet bis Ende 2025. Für den Fall, dass er nicht verlängert wird, sieht sich der Verein jetzt schon nach anderen Räumen um. Der Betrieb trägt sich durch Fördermittel und Spenden. Eine angestellte Geschäftsleiterin kümmert sich vor Ort um die Mitglieder und die Raumnutzung, kuratiert das Veranstaltungsprogramm und berät Interessierte. Eine Gruppe von „Critical Friends“ trifft sich einmal monatlich mit den Nutzer:innen, um laufend zu evaluieren, was gut läuft, was sich ändern sollte und ob neue Ideen umgesetzt wurden. Forscher:innen der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften begleiten die Gruppe und analysieren die Entwicklung. Am vorläufigen Ende des Projekts werden sie Bilanz ziehen. Diese bildet mit die Grundlage für die weitere Verbreitung des Konzepts an anderen Orten [102].

Neue Altersgenerationen, neue Selbstbilder

Wer oder was sind eigentlich „Ältere“? Welches Bild hat die Gesellschaft von ihnen und welches Bild haben sie von sich selbst? Der Lebensabschnitt des „Ruhestands“ habe sich gerade in den letzten Jahren deutlich verändert, so das Fazit einer repräsentativen Erhebung unter 1942 bis 1958 Geborenen. Diese gaben zwischen 2013 und 2019 in drei Befragungswellen Auskunft über den allmählichen Übergang ins Rentenalter. Dabei zeigte sich, dass mit steigendem Lebensalter die individuellen Unterschiede zunehmen. Der Ruhestand, heißt es im Abschlussbericht, „ist somit die Lebensphase, welche die größte Vielfalt von Lebenslagen, Erfahrungen und Fähigkeiten im gesamten Lebenslauf aufweist. Für eine Gesellschaft des langen Lebens mit einer stetig alternden Bevölkerung bedeutet dies, dass auch die Pluralität der Bevölkerung weiter ansteigen wird.“ Bei allen Veränderungen und Einschränkungen, die sich im Laufe der Zeit einstellen können ‒ im Ergebnis kommen dieser Lebensphase „bemerkenswerte Potenziale sowohl für die selbstbestimmte Lebensführung des Einzelnen als auch im Hinblick auf die Beiträge, die ältere Menschen für die Gesellschaft leisten“ zu [103].

Zurzeit rücken die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer, die zwischen 1955 und 1970 Geborenen, in diese Lebensphase vor. Ein Teil von ihnen hat bereits das offizielle Renteneintrittsalter erreicht. Viele machen aber auch von Vorruhestands- und anderen Regelungen Gebrauch, sodass das tatsächliche Renteneintrittsalter im Durchschnitt derzeit bei rund 64 Jahren liegt. Um 2030 wird dann die Mehrheit der Babyboomer die Erwerbsphase hinter sich gelassen haben. Damit wächst in den nächsten Jahren bundesweit der Bevölkerungsanteil der über 64-Jährigen deutlich an. In Großstädten, wo viele Junge leben oder zum Studieren und Arbeiten hinziehen, etwas weniger, auf dem Land, je nach Lage, etwas mehr. Die Babyboomer leben im Durchschnitt länger und verbringen dabei auch mehr Jahre ohne gesundheitliche Einschränkungen als die vorangehenden Generationen von Rentner:innen [104].

Das KörberHaus

Ein Treffpunkt für alle Generationen und Kulturen ist das KörberHaus in Hamburg, 2022 eröffnet. Es ist ein Kooperationsprojekt des Bezirksamtes Bergedorf und der Körber-Stiftung. Auf 6000 qm Fläche sind neun Organisationen aktiv, darunter Öffentliche Bücherhalle, Volkshochschule, AWO-Treff für Senioren, Freiwilligenagentur, Seniorenbeirat oder das ins Haus integrierte LichtwarkTheater. Die Leiterin des Bezirksamts Bergedorf, Cornelia SchmidtHoffmann, und der Vorstandsvorsitzende der Körber-Stiftung, Dr. Lothar Dittmer, sind überzeugt: Kommunen brauchen offene Begegnungsorte und profitieren von Kooperationen.

Ein Treffpunkt für alle Generationen und Kulturen im Herzen Bergedorfs: Das KörberHaus
Ein Treffpunkt für alle Generationen und Kulturen im Herzen Bergedorfs: Das KörberHaus Foto: Nicole Keller

Was ermöglicht die ungewöhnliche Zusammenarbeit zwischen einer öffentlichen Verwaltung und einer privaten Stiftung?

Dittmer: Als die Planung 2016 begann, hatten beide Partner einen konkreten Bedarf, von unserer Seite war es der Wunsch, alle unsere operativen Angebote zu Alter und Demografie an einem neuen attraktiven Ort zu bündeln. Die echte Bereitschaft zur Veränderung auf beiden Seiten war die Voraussetzung dafür, gemeinsam etwas Innovatives zu wagen.

Schmidt-Hoffmann: Für uns als öffentliche Hand ist das Neuland. Unsere bezirklichen Häuser stellen wir sonst einem Träger zur Verfügung, der dort seine Sozial- oder Kulturarbeit in eigener Regie betreibt oder wir betreiben sie ganz allein. Das KörberHaus betreiben wir mit der Stiftung zusammen selbst. Wir agieren als Institutionen zwar eigenständig, aber doch mit einem gemeinsamen Leitbild und einer gemeinsamen Haltung. Das erfordert funktionierende Abstimmungsprozesse.

Wie ist die Rollenteilung?

Dittmer: Es gibt zwei große gemeinsame Aufgaben: Organisation und Kommunikation. Das ist ein wenig wie das „Innenministerium“ und das „Außenministerium“. Das Bezirksamt hat die Kommunikation nach außen, für die Bürgerinnen und Bürger, übernommen. Und weil wir als Körber-Stiftung im Haus mit sehr viel mehr Personal beteiligt sind, sind Betrieb und Hausmanagement bei uns.

Wie funktioniert die Zusammenarbeit im Alltag?

Schmidt-Hoffmann: In einer gemeinsamen Steuerungsrunde haben wir von Anfang an alle Bau- und Konzeptfragen abgestimmt. Heute gibt es eine doppelte Leitung durch uns und die Körber-Stiftung. Und mit der regelmäßigen Hausrunde haben wir ein zentrales Gremium für alle neun Partnerorganisationen. Dort informiert man sich und organisiert das Zusammenwirken aller im Haus.

Ausgehend vom KörberHaus – wie wichtig sind öffentliche Räume?

Schmidt-Hoffmann: Sehr. Deshalb verstehen wir nicht nur das KörberHaus als Ganzes so,sondern vergeben als Bezirk im KörberHaus insgesamt fünf seiner Räume zu günstigen Konditionen an Bürger:innen oder Organisationen, die dort eigene Kultur- oder Bildungsangebote machen. Uns erreichen viele Raumanfragen aus der Zivilgesellschaft. Vereine brauchen Räume, wenn zum Beispiel Gaststätten mit Sälen schließen. Wir können aber nicht überall Bürgerhäuser errichten. Deshalb haben wir auch Raumbedarfe erhoben. Und festgestellt, dass es eigentlich genug Raum gibt. Man muss die Ressourcen in Vereinsheimen, Schulen, Kirchen einfach nur gut nutzen – und alle Partner miteinander vernetzen.

Dittmer: Auch wir stellen gemeinnützigen Organisationen im KörberHaus Räume zur Verfügung – eine Besonderheit ist der Theatersaal, aber auch unser Frei Raum mit Büro- und Kreativausstattung, der Engagierten immer ohne Anmeldung offensteht. Hier wünschen wir uns, dass sich die Zivilgesellschaft selbst organisiert.

Was können andere vom KörberHaus lernen?

Dittmer: Es ist ohne Zweifel ein Modellvorhaben. Dass hier ein öffentlicher und ein privater Partner finanziell und infrastrukturell auf Augenhöhe miteinander kooperieren, das ist schon eine Besonderheit. Das lässt sich sicherlich nicht einfach auf andere Orte übertragen. Aber was nahezu überall geht: Dass Zivilgesellschaft und Verwaltung miteinander ins Gespräch kommen. Wo es diesen Dialog nicht gibt, können auch keine gemeinsamen Ideen entstehen. Und man muss an möglichst konkreten Vorhaben arbeiten, gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern.

Schmidt-Hoffmann: Ich glaube, wir brauchen überall soziale Orte. Viele sind zu Recht nur für spezifische Zielgruppen. Jede Kommune braucht aber auch Dritte Orte. Ich meine damit Bürgerhäuser, Stadtteil- oder Kulturzentren. Räume für verschiedene Altersgruppen und offen für kulturelle Unterschiede, auch Orte für ganz konkrete Lebenshilfe. Menschen brauchen Orte, an denen sie Teil eines sozialen Gefüges sind und sich auch ein Stück zu Hause fühlen.

Fazit

Gutes Altwerden braucht Begegnungsstätten. Die Wünsche und Ansprüche an sie wandeln sich, wenn die Babyboomer ins Rentenalter vorrücken. Vier Thesen zu Dritten Orten für Ältere.

Neue Alte brauchen neue Orte

Wenn die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer nach und nach in Rente gehen, dürfte die Nachfrage nach Dritten Orten, die (auch) Menschen jenseits des Erwerbsalters anziehen, in absehbarer Zeit steigen. Dritte Orte müssen ihr Angebot anpassen und vielfältiger gestalten. „Viele Angebote werden in fünf Jahren nicht mehr gefragt sein“, prophezeit Andrea Töllner, Leiterin des Kommunalen Seniorenservice Hannover: „Heute schon ist Digitales der Renner bei den 70- bis 95-Jährigen. Wir müssen neue Schwerpunkte setzen.“ Zwar gibt es unter den heute 53- bis 68-Jährigen große Unterschiede bei Einkommen und Vermögen, bei Bildung, Gesundheit und anderen Indikatoren, die sich auf ihre Bedürfnisse wie auch auf ihr Engagement heute und in naher Zukunft auswirken. Aber die Babyboomer teilen bestimmte Erfahrungen: Sie sind mit den gesellschaftlichen Umbrüchen nach 1968 aufgewachsen. Sie haben das Aufkommen der neuen sozialen Bewegungen erlebt, haben Alternativen zum hergebrachten Rollen- und Familienmodell oder ganz unkonventionelle Lebensentwürfe erprobt. Sie arbeiten länger, ihre Frauenerwerbsquote ist höher und sie engagieren sich häufiger ehrenamtlich als noch die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs oder in den ersten Nachkriegsjahren Geborenen. Die Vermutung liegt nahe, dass sie sich von herkömmlichen Angeboten für Senior:innen nicht angesprochen fühlen. Sie dürften sich eher für Orte interessieren, die zum aktiven Mitwirken einladen, Freiraum für Austausch, Kreativität, Lernen und neue Ideen bieten.

Beim Engagement Älterer gibt es noch Ausbaupotenzial

Ohne Ehrenamtliche müsste so manche Begegnungsstätte ihren Betrieb einstellen. Diese könnten jedoch in den nächsten Jahren knapp werden. Aktuell sind es vor allem „junge Alte“, also 60plus, die sich ehrenamtlich in Dritten Orten insbesondere für Ältere engagieren. Zwar kommen mit den Babyboomern in den nächsten Jahren viele dieser fitten „jungen Alten“ nach, aber ob diese genauso engagiert sein werden, bleibt zunächst abzuwarten. Dritte Orte und deren Angebote für Ältere werden häufig von älteren Frauen für ältere Frauen bestritten. Männer sind derzeit noch unterrepräsentiert, auf Seiten der Nutzenden wie auch der Ehrenamtlichen. Das eröffnet großes Potenzial, neue Menschen für Dritte Orte und ihre Angebote zu begeistern und so deren Wirkung auszuweiten. So sind in vielen Begegnungsstätten für Ältere überwiegend Frauen ehrenamtlich aktiv. Neuere Angebote wie Repair Cafés überzeugen vermehrt auch Männer, sich einzubringen.

Aushandeln von gesellschaftlichen Themen braucht Raum

Wenn Dritte Orte integrativ und demokratiefördernd sein sollen, müssen sie auch Angehörige anderer Kulturkreise ansprechen oder Menschen, die sich bislang wenig für Themen wie Kunst, Politik oder auch Belange des Quartiers interessieren. Gesellschaftliche Herausforderungen wie die Klimaerwärmung oder Gefährdungen der Demokratie erfordern intensiven Austausch zwischen Jung und Alt, zwischen Anhänger:innen aller politischen Schattierungen. Aber auch bauliche Veränderungen und Verbesserungen des Zusammenlebens im Quartier oder im Dorf lassen sich eher erreichen, wenn viele mitdenken und mitwirken. Dritte Orte können Freiraum dafür bieten.

Ein bisschen Anarchie darf sein

Dritte Orte müssen nicht komplett durchstrukturiert sein. Es kann ein wichtiger Faktor für den Erfolg eines Dritten Ortes sein, wenn er unvorhergesehene Begegnungen oder auch nur entspanntes Zuschauen ermöglicht. Das heißt, wenn er dazu einlädt, hinzugehen und sich überraschen zu lassen: „Was erwartet mich heute? Und wie kann ich mitmachen?“

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Dritte Orte – Begegnungsräume in der altersfreundlichen Stadt

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