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„Wir brauchen einen demokratischen Prozess für Gaza“

Malaysias Premierminister Anwar Ibrahim über seine Verbindungen zur Hamas, Deutschlands „China-Phobie“ und warum ihn seine Jahre im Gefängnis zu einem Optimisten gemacht haben.

Körber-Stiftung: Herr Premierminister, auf den Terrorangriff der Hamas auf Israel reagierte das israelische Militär mit einem Krieg im Gazastreifen, der Millionen von Menschen vertrieben und Zehntausenden das Leben gekostet hat. Wie beurteilen Sie die Situation?

Anwar Ibrahim: Das Problem im Nahen Osten, insbesondere in Palästina und im Gazastreifen, begann lange vor der Gründung der Hamas. Es besteht schon seit 1948 …

als der Staat Israel aus dem britischen Mandatsgebiet Palästina hervorging.

… und ich bemühe hier gerne das Beispiel von Südafrika und Nelson Mandela: Wenn ein Land kolonialisiert wird, unter einem de-facto Apartheidregime existiert und ethnische Säuberungen und Enteignungen ertragen muss, dann greifen Menschen zu extremen Maßnahmen. Das ist der Grund für den aktuellen Konflikt.

Rechtfertigt das die Gewalt und den schrecklichen Angriff der Hamas?

Ich akzeptiere keine Gewalt, ich akzeptiere keine Geiselnahmen – und ich verurteile aus Prinzip jede Misshandlung von Frauen, Kindern und Zivilisten.

Die Hamas steht seit 2001 auf der EU-Terroristenliste und seit den Anschlägen im vergangenen Oktober wurde in Deutschland ein Betätigungsverbot gegen die Organisation verhängt. Ihnen wird nachgesagt, dass Sie der Hamas nahestehen. Warum Beziehungen zur Hamas?

Wenn ich eine einseitige Position gegenüber der Hamas einnehme, gibt es keine Möglichkeit mehr zu verhandeln. Ich finde aber, dass das möglich sein muss. Akzeptiere ich alles, was die Hamas tut? Nein! Unser politisches Engagement in Malaysia ist klar an den politischen Flügel der Hamas gerichtet – und es gibt keinen Grund, warum ich unsere Außenpolitik nach dem Willen anderer Länder ausrichten sollte.

Bis heute gibt es keinen Waffenstillstand, die Hamas hält immer noch mehr als 100 Menschen als Geiseln fest und die humanitäre Lage im Gazastreifen ist katastrophal. Wie geht es jetzt weiter?

Wir müssen eine einvernehmliche Lösung für den Konflikt finden. Es ist nicht an mir zu entscheiden, ob die Israelis Netanjahu wollen oder nicht. Genauso wenig steht es mir zu, darüber zu urteilen, wer in Palästina noch hinter der Hamas steht und wer nicht. Dafür bräuchte es einen repräsentativen und demokratischen Prozess, in dem die Bevölkerung des Gazastreifens oder ganz Palästinas, einschließlich des Westjordanlandes, entscheidet, was sie will.

Ist es nicht die Hamas selbst, die einem solchen Prozess im Weg steht?

Nicht, wenn sich eine breitangelegte Lösung finden lässt. Ich kann aber auch nicht für die Hamas sprechen. Die Kontakte halten sich in Grenzen und wenn ich mit Hamas-Vertretern spreche, dann geht es um Themen wie humanitäre Hilfe.

Lassen Sie uns den Blick etwas weiten. Sie haben kürzlich gesagt, dass „Malaysia in einer sehr komplexen Welt ums Überleben kämpft.“ Was meinen Sie damit?

Wir Malaysier können uns glücklich schätzen, denn trotz aller Probleme leben wir in einer der friedlichsten Regionen der Welt und sind eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften. Ich frage mich in diesem Zusammenhang trotzdem oft, wie wir die Wirtschaft wieder auf den Stand der 1990er-Jahre bringen können, als es uns relativ gesehen noch um einiges besser ging.

Malaysia liegt in dem aktuellen Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International auf Platz 50 von 180 Ländern.

Das liegt daran, dass wir in Malaysia ein halbverrottetes System geerbt haben, das von endemischer Korruption und politischen Missbrauch durchsetzt ist. Erst wenn wir dieses System reformiert haben, wird das Vertrauen in unsere Wirtschaft wieder wachsen. Erst im vergangenen Jahr haben wir in Malaysia einen enormen Anstieg der Auslandsinvestitionen erlebt, sogar aus Deutschland. Mittlerweile entwickeln wir uns zu einer echten Drehscheibe für die Energiewende und für moderne Technologien. Unser Vorteil ist, dass wir sowohl sehr gute Beziehungen zu Europa als auch zu China pflegen.

Sie haben in diesem Zusammenhang beklagt, dass der Westen zunehmend unter einer „China-Phobie“ leide. Die aktuelle Umfrage des Berlin Pulse zeigt, dass die Deutschen China gegenüber skeptischer geworden sind – und die deutsche Regierung hat erst kürzlich mit ihrer China-Strategie einen De-Risking-Kurs angekündigt, die Ländern wie Malaysia mehr Bedeutung beimisst. Profitiert Malaysia von der „China-Phobie“?

Wir nutzen die Schwierigkeiten anderer nicht aus, um uns selbst zu bereichern. Aber es stimmt: In Europa wächst speziell seit der Russland-Ukraine-Krise die Sorge, zu sehr von China abhängig zu sein. Das Ergebnis ist eine neue, viel vorsichtigere Chinapolitik.

Können Sie nachvollziehen, dass China in Europa als Gefahr wahrgenommen wird?

Ich bin da anderer Meinung, denn in Malaysia haben wir mit China seit einem halben Jahrhundert kein wirkliches Problem. Natürlich gibt es ideologische Differenzen, aber unsere grundlegenden Interessen beeinträchtigt das nicht. Malaysia ist ein enger Verbündeter des Westens und hat gleichzeitig eine große Affinität zu China. Nicht umsonst betrachten die Deutschen und die Europäer uns und die ASEAN als attraktive Partner, um zwischen den USA und China zu vermitteln.

Eine Konfrontation zwischen den Vereinigten Staaten und China ist derzeit wohl eine der größten Sorgen der internationalen Politik. Auch viele Deutsche sehen die Lage angesichts der vielen Kriege und Konflikte immer pessimistischer. Können Sie das verstehen?

Mein Leben war zum Großteil sehr turbulent und ich habe viel Leid erlebt. Mehr als ein Jahrzehnt habe ich im Gefängnis verbracht, bin zwischen Gefangenschaft und Freiheit gependelt. Aber ich bleibe trotzdem sehr optimistisch. Schauen Sie sich Deutschland an. Es gibt nicht viele Länder auf der Welt, die ihre völlige Zerstörung überleben konnten. Das ist positiv zu werten. Die Probleme, die Deutschland heute ins Haus stehen, sind minimal im Vergleich zu den Problemen, die das Land in der Vergangenheit überstehen musste.

Vielen Dank für Ihre Zeit, Herr Premierminister.

Das Interview führten Julia Ganter and Jonathan Lehrer im Rahmen des Staatsbesuches des Premierministers in Deutschland.

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