Körber History Forum, 9. bis 11.09.2016
Bericht
Entwaffnung der Geschichte für eine friedliche Gegenwart

Mit dem neu geschaffenen »Körber History Forum« will die Körber-Stiftung einen Beitrag dazu leisten, die Geschichte abzurüsten
»Wir müssen heute leider feststellen, dass Geschichte in immer mehr Ländern zur politischen Waffe mutiert«, sagte Thomas Paulsen, Vorstand der Körber-Stiftung zur Eröffnung der zweitätigen Konferenz, die in Berlin internationale Wissenschaftler, Journalisten, Politiker, Intellektuelle und Geschichtsvermittler erstmals zusammenbrachte, um den Einfluss der Geschichte auf die politische Gegenwart und deren Instrumentalisierung zu diskutieren. »Wir wollen Geschichte entwaffnen, indem wir offen über unsere unterschiedlichen Geschichtsbilder sprechen«, sagte Paulsen. Die Körber-Stiftung wolle von nun an mit dem »Körber History Forum« einmal im Jahr die Lücke zwischen wissenschaftlichen Treffen wie dem Historikertag, der stark an Aktualität orientierten Sicherheitskonferenz und dem Berliner Forum Außenpolitik füllen.
Agenda
Europäische Geschichtspolitik im Licht aktueller Herausforderungen
9. bis 11. September 2016
Humboldt Carré Berlin
Agenda zum Download (PDF)
Freitag, 9. September
18:00 Uhr: Eröffnung
Thomas Paulsen, Vorstand, Körber-Stiftung, Hamburg
Auftaktrede
Die (Neu-)Vermessung Europas
Grenzen und Räume im Übergang
Die Zeitenwende von 1989 und 1991 veränderte Europa politisch, geografisch und mental. Nach den Grenzverschiebungen und den damit verbundenen Umsiedlungen, Vertreibungen und ethnischen Säuberungen der beiden Weltkriege wurde die Landkarte Europas zum Ausgang des 20. Jahrhunderts noch einmal neu vermessen. Hermetisch abgeschlossene Räume öffneten sich, Grenzen wurden zu Transit- und Transformationsräumen, die Länder des Ostens kehrten in die Mitte Europas zurück. Wo steht der Kontinent heute, 25 Jahre danach, mit Blick auf seine Grenzen und sein Selbstverständnis? Wie sieht die neue Ordnung des 21. Jahrhunderts aus?
Karl Schlögel, Fellow, Carl Friedrich von Siemens Stiftung, München
Anschließend Empfang
Interview mit Fania Oz-Salzberger

»Um Jude zu sein, muss man überhaupt nicht religiös sein«
Die israelische Historikerin und Autorin Fania Oz-Salzberger lehrt als Professorin für Geschichte an der Universität Haifa und ist zudem Direktorin von Paideia, dem Institut für Jüdische Studien in Schweden. Beim Körber History Forum wird sie diskutieren, ob Europa am Ende des säkularen Zeitalters angekommen ist. Für den Geschichtswettbewerb haben wir nachgefragt, was Religion für sie bedeutet.
Sie sind die neue Direktorin von Paideia, dem Europäischen Institut für Jüdische Studien in Schweden, und haben kürzlich mit Ihrem Vater Amos Oz das Buch Juden und Worte veröffentlicht, in dem Sie die Gründe für jüdische Beharrungskraft und Prominenz untersuchen. Sie selbst bezeichnen sich jedoch als »eine Atheistin der Bibel«. Welche Rolle spielt die Religion in Ihrem Leben?
Religion fasziniert mich als eine grundlegende Ausdrucksform des Menschen, seines Fühlens, seiner Rituale und seines intellektuellen Strebens. Als Historikerin kann ich das unmöglich übersehen, als Mitglied der Zivilgesellschaft möchte ich es nicht unterschätzen. Religiosität ist bekanntlich älter als die Geschichte. Sie hat moderne Fortschrittstheorien überdauert und wird die Menschheit wohl auch in Zukunft begleiten. Ich jedoch bin ein säkularer Mensch, ein (kritisches) Kind der europäischen Aufklärung. »Säkularität« ist, anders als »Atheismus«, eine kulturelle Haltung, sie bedeutet mehr als nur die Leugnung Gottes. Sie braucht Wissen und Austausch, Dialog und Entscheidung.
Videos
Auftaktrede von Karl Schlögel zum Körber History Forum 2016
Der Osteuropahistoriker Karl Schlögel eröffnete am Freitag den 9.9. das Körber History Forum im Humboldt Carré in Berlin mit seiner Rede zur »(Neu-)Vermessung Europas. Grenzen und Räume im Übergang«. Darin schlug er den Bogen von der Wiederkehr der Kategorien Raum und Grenzen in Europa zu aktuellen Krisen auf dem Kontinent. Im Anschluss diskutierte er seine Thesen mit Thomas Paulsen, Körber-Stiftung.
Macht und Ohnmacht des Imperiums
Europa befindet sich 25 Jahre nach Ende der Sowjetunion wieder in einer Umbruchsphase: Die Zahl derer, die in Europa den Nationalstaat inklusive dazugehöriger Grenzen und einer eigenen nationalen Identität gegenüber supranationalen Staatengebilden und Ideen gestärkt sehen wollen, wächst. Auf dem Podium beim Körber History Forum diskutierten darüber Judy Dempsey vom Carnegie Endowment for International Peace, Marek A. Cichocki vom Natolin European Centre, Yaroslav Hrytsak von der Ukrainischen Katholischen Universität Lviv, Alexey I. Miller von der European University in St. Petersburg und die Moderatorin Cathrin Kahlweit von der Süddeutschen Zeitung.
Muss das Ende der Sowjetunion neu bewertet werden?
Wohin entwickelt sich Russland? Beim Streitgespräch zum Stellenwert der jüngsten Vergangenheit für das nationale Selbstverständnis Russlands und den Dialog mit dem restlichen Europa standen sich Ivan Krastev vom Centre for Liberal Strategies, Sofia, und Natalia Burlinova von der Public Initiative »Creative Diplomacy« aus Moskau gegenüber. Sie debattierten über unterschiedliche Perspektiven auf den Transformationsprozess in Russland seit 1991 und über konträre Auffassungen politischer und gesellschaftlicher Rechte in Russland und dem Rest Europas. Katja Gloger vom Stern moderierte.
Migration und Identität
Zuwanderung, Vertreibung, Flucht und Asyl sind auf dem europäischen Kontinent keine neuen Phänomene, sondern reichen historisch weit zurück. Inwieweit hilft der Blick auf Migrationsgeschichte beim Umgang mit Flüchtlingen heute und wie kann Europa auf diese Langzeitherausforderung reagieren? Das diskutierten Ulrich Herbert von der Universität Freiburg, François Gemenne von der Paris School of International Affairs, Norman Naimark von der Universität Stanford und der Moderator Juan Moreno, Der SPIEGEL.
Europa am Ende des säkulären Zeitalters?
Wachsende Multiethnizität und Multireligiösität, engere globale Vernetzung: Europa muss sich neu mit der Bedeutung von Religion auf dem Kontinent auseinandersetzen. Inwieweit ist Europa heute in einem post-säkularen Zeitalter angekommen? Lamya Kaddor vom Liberal-Islamischen Bund, Fania Oz-Salzberger von der Universität Haifa, die Moderation Sonja Zekri von der Süddeutschen Zeitung und Udo Di Fabio von der Universität Bonn debattierten über Religion und Staat, religiösen Extremismus und die Instrumentalisierung von Religion in politischen Debatten.
Europas koloniales Erbe
Historiker Jürgen Zimmerer, die Moderatorin Tina Mendelsohn, der Autor Pankaj Mishra und die Verlegerin Rebecca Nana Ayebia Clarke diskutierten die Frage nach einer angemessenen juristischen, historischen, politischen und psychologischen Aufarbeitung kolonialer Verbrechen Europas. Welche moralische Verantwortung hat Europa gegenüber den ehemaligen Kolonien? Im Mittelpunkt der Diskussion standen die Frage nach der Gestaltungshoheit des postkolonialen Narrativs und die Rolle des Kolonialismus in der Geschichtsvermittlung. Auch die afrikanische und karibische Literatur für die Sensibilisierung junger Menschen im Hinblick auf die koloniale Vergangenheit wurden thematisiert.