#30PostSovietYears: Kann Kunst versöhnen?

Geschichte ist Gegenwart! Der History & Politics Podcast der Körber-Stiftung

  • Kultur
  • Internationale Verständigung
  • 39 Min.
  • 28. Episode

Die Folgen des Zerfalls der Sowjetunion und des Ende des Kalten Krieges vor drei Jahrzehnten wirken bis heute nach. Zusammen mit der bildenden Künstlerin Katharina Roters fragen wir, welche Impulse eigentlich die Kunst für eine fruchtbare Auseinandersetzung mit schwieriger Vergangenheit setzen kann. Katharina Roters gibt entlang einiger ihrer künstlerischen Projekte Einblicke in die Erinnerungskulturen von Deutschland, Ungarn und Armenien.

(Zu Person und Werk von Katharina Roters (in engl. Sprache)) [https://secondaryarchive.org/artists/katharina-roters/]

(Zur Publikation »Utopia & Collapse. Rethinking Metsamor. The Armenian Atomic City«) [https://www.park-books.com/index.php?%20lang=en&page=books&view=co&booktype=order_1_releasedate&subject=1&artist=all&author=all&pd=%20pb&book=921]

(Informationen zur Ausstellung »Hack the Past« und »Wunderblock«) [http://www.modemart.hu/en/kiallitas/rewritable-stories/ (Einführung in englischer Sprache)]

(Fotos aus der Ausstellung sind auf der ungarischsprachigen Website zu sehen) [http://www.modemart.hu/kiallitas/ujrairhato-tortenetek/]

(Zu Ergebnissen des europäischen Jugendprojekts #30PostSovietYears Phantom Pasts or Everyday Present?) [https://www.koerber-stiftung.de/eustory/30postsovietyears]

„Ungarn ist, wenn man sich den ehemaligen Ostblock anschaut, nicht allein mit dieser Entwicklung. Es ist wie eine Pendelbewegung. Wenn man sich Ungarn rückblickend anschaut, ist es oft so gewesen. Dazu gibt es diese Theorie der Pendelstaaten, die immer von der einen Seite zur anderen Seite pendeln. Wenn man lange etwas wegdrückt und sich dann ein Raum öffnet, dann springt es natürlich hoch wie ein Ball unter Wasser, wenn man ihn loslässt.“

Katharina Roters, bildende Künstlerin

Weiterführende Links

Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Folge von History and Politics, dem Podcast der Körber-Stiftung zu Geschichte und Politik. Mein Name ist Gabriele Woidelko, und auch heute sprechen wir wieder mit einem Gast darüber, wie die Vergangenheit die Gegenwart beeinflusst.

Dreißig Jahre nach Ende der Sowjetunion und nach dem Ende des Kalten Krieges ist die erste Euphorie inzwischen längst einer Erkenntnis gewichen: Viele Menschen in Europa haben einen sehr hohen persönlichen Preis für die Umbrüche von 1989 und ‘91 bezahlt. Der Übergang vom Sozialismus zum Kapitalismus, der Übergang von der erzwungenen Zugehörigkeit zur Sowjetunion oder zum Warschauer Pakt hin zu freien, unabhängigen Nationalstaaten – das alles war für die Menschen in Mittel- und Osteuropa von großen Herausforderungen begleitet. Diese Geschichte ist bis heute nicht abgeschlossen, das sehen wir an vielen aktuellen Konflikten.

In unserer heutigen History and Politics Podcast-Folge erweitern wir unsere gewohnte historisch-politische Perspektive um eine weitere Disziplin. Wir fragen: Welche Impulse kann eigentlich die Kunst für eine fruchtbare Auseinandersetzung mit schwieriger Vergangenheit leisten?

Antworten darauf suchen wir zusammen mit einer Grenzgängerin: Katharina Roters ist bildende Künstlerin, in deren Arbeit Fotografie eine sehr wichtige Rolle spielt. Aufgewachsen zwischen Ost und West, lebt und arbeitet sie abwechselnd in Deutschland, Ungarn und in Armenien. Ihre künstlerischen Projekte haben einen starken Fokus auf Geschichte.

Wie lassen sich aus einem radikal persönlichen Zugang weitgehende Erkenntnisse gewinnen über Geschichte, die noch nicht vergangen ist? In welcher Form kann Kunst auf Leerstellen in den Erinnerungskulturen von Deutschland, Ungarn und Armenien hinweisen? Und was kann ein künstlerischer Zugang generell bei der Herausforderung leisten, die Vergangenheit mit der Gegenwart zu versöhnen?

Darüber hat meine Kollegin Katja Fausser mit Katharina Roters anhand ihrer Kunstprojekte im postsowjetischen und postsozialistischen Raum gesprochen.

Katja Fausser: Frau Roters, aufgewachsen sind Sie als Tochter eines deutschen Vaters und einer ungarischen Mutter. Sie kennen beide Länder gut, haben in beiden Ländern auch länger gelebt, und seit Jahrzehnten zieht es Sie zum Leben und Arbeiten immer wieder auch nach Armenien. Wie wichtig ist dieser Hintergrund für Ihre künstlerische Arbeit?

Katharina Roters: Das ist eine gute gewichtige Frage. Für meine gesamte Persönlichkeit hat dies eine grundlegende Rolle gespielt. In den ersten Jahrzehnten meines Lebens war das zum einen die persönliche individuelle Auseinandersetzung mit mir selbst. Die Zweisprachigkeit, die zwei Länder, das viele Reisen, wie ich groß geworden bin. Die Identitätsfindung war in den ersten Jahren, auch während des Studiums, ein riesiges Thema. Wer ist man, wie definiert man sich, aber da war das im privateren Kontext. In der Malerei und Zeichnung, aus der ich ursprünglich komme, habe ich das dann exzessiv in allen möglichen Varianten thematisiert. Im Laufe der Jahre wird man auch etwas ruhiger, entspannter und gesettelter damit und bekommt ein bisschen mehr Distanz in diese ganze Thematik. Dann öffnen sich auch andere Räume und es entstehen andere Themen, man kann sich besser, sage ich mal, mit dem »Außen« vernetzen.

Das ist eine sehr schöne Überleitung, weil wir heute anhand drei Ihrer Projekte über unser Thema sprechen möchten. Beginnen wir mit Ihrem Ausstellungsprojekt mit dem Titel »Hack the Past«. Das war eine unglaublich persönliche Ausstellung, die Sie in Ungarn und ich glaube auch in Deutschland gezeigt haben. Sie nähern sich darin dem Thema Nationalsozialismus in Deutschland und der sozialistischen Herrschaft in Ungarn radikal subjektiv über persönliche Exponate Ihrer beiden Großväter. Warum haben Sie sich entschlossen, etwas so höchst Privates öffentlich auszustellen? Denn Ihre Exponate, das jetzt schon vorweg, die taten weh.

Das war ein sehr langer Prozess, den ich auch nicht allein gemacht habe. Dieses ganze Thema und Projekt habe ich mit einem ungarischen Medienkünstler, József Szolnoki, zusammen entwickelt und erarbeitet. Die Auseinandersetzung damit ging nach meinem Studium los, nachdem ich schon ein bisschen aus dieser persönlichen, mich selbst reflektierenden Phase heraus war und über die Zeichnung mehr Distanz hatte. Da habe ich József kennengelernt. Wir haben viel diskutiert, und im Austausch kam dann plötzlich die Frage, wer war denn jetzt dein Großvater, dein deutscher Großvater? Über die Jahre entwickelte sich ein Dialog mit ihm, auch mit meiner Familie, und wir haben dieses Projekt langsam entwickelt. Dann gab es, wie Sie gesagt haben, diese eine große Ausstellung, die erste 2016, »Hack the Past«. Wir haben das Projekt weiterentwickelt und hatten 2019 dann unter einem anderen Titel »Wunderblock« die gleichen Arbeiten um weitere aufgestockt. Das Projekt teilte sich in, wie Sie gesagt haben, einen sehr persönlichen Teil, sprich das Leben meiner beiden Großväter, den deutschen Großvater und den ungarischen Großvater, die in den beiden großen Ideologien mittendrin waren und deren Leben grundlegend davon beeinflusst war, und meiner persönlichen Auseinandersetzung damit.

Man kann in einem Podcast ja die Ausstellung nicht zeigen. Ich hatte mich aber gefragt, ob Sie vielleicht trotzdem versuchen, die zwei zentralen Porträts Ihrer Großväter, die im Mittelpunkt standen, zu beschreiben.

Ganz genau, deswegen war es auch sehr schmerzhaft. Meine Mutter wollte mich enterben, aus der Familie rausschmeißen und hat mit einem Anwalt gedroht und alles, was man sich so vorstellen kann. Ich habe letzten Endes versucht bei den traumatischen, tabuisierten Themen hinzuschauen, mit denen die Generation meiner Eltern sich nicht wirklich auseinandergesetzt hat, sozusagen mit dem, was man so gerne unter den Teppich kehrt. Es fing mit einem Foto an. Man muss wissen, dass mein deutscher Großvater leidenschaftlicher Fotograf war und ich besitze hunderte Fotos von ihm, die er Mitte der 1930er aufgenommen hat. Er hat also noch vor dem Faschismus begonnen. Ich glaube sie haben 1933 geheiratet. Er hat dann eine Hochzeitsreise mit seiner Frau in Deutschland gemacht und sie und ihn in ganz idyllischen hochromantischen Posen fotografiert. Das sind sehr schöne Fotos und er hat sich aber auch selbst fotografiert und es gibt ein Porträt von ihm, wo auf seinem Jackett der Hakenkreuzsticker zu sehen war. Er war passionierter Segelflieger und ist der NSDAP auch beigetreten. Das war eine große nächste Diskussion, wer war er denn da? Dann hat er nach dem Krieg, ein neues Porträt wollte er nicht machen, das Hakenkreuz auf einem Abzug selbstständig mit seiner eigenen Hand wegretuschiert. Wenn man es gegen das Licht hält, sieht man es.

Es gibt zwei Porträts, die existieren, mein Vater hatte das eine und meine Tante das andere. Wir sehen ihn auf dem gleichen Porträt einmal mit Hakenkreuz, einmal ohne Hakenkreuz. Man muss dazu sagen, mein Großvater arbeitete beim Gericht. Als Gerichtsschreiber wurden seine Akten, also seine Lebensläufe, Bewerbungen, seine Vereidigung, sein Beitritt zur NSDAP und so weiter und so fort, seine Entnazifizierung, seine Erklärung von 1962, dass er niemals irgendeiner Partei wie der NSDAP angehört hat, dokumentiert und lagen in einem Archiv. Ich glaube so Mitte der 2000er bekamen wir einen Anruf, also mein Vater, dass jetzt die, ich weiß nicht wie viele, Jahrzehnte abgelaufen sind und die Unterlagen vernichtet werden. So ist das per Gesetz. Wir konnten sie nicht haben, aber einsehen. Da bin ich mit meinem Vater hingefahren und habe alles abfotografiert. Das heißt also, wir hatten praktisch eine recht lückenlose Dokumentation seines beruflichen und damit eben auch verknüpften Werdegangs, wie das dann so war in der Nazizeit.

Dieses Doppelporträt, einmal mit, einmal ohne Hakenkreuz entspricht seiner eigenen Selbstinszenierung, was sich in den Dokumenten sehr schön widergespiegelt hat: Seine Vereidigung als Parteimitglied in die NSDAP und dann aber seine Bestätigung, dass er niemals so einer Partei angehört hat. Wie geht man damit um, wie tabuisiert man das dann selbst? Dieses Doppelporträt hatten wir auf der deutschen Seite.

Darf ich, bevor wir dann zu dem ungarischen Pendant kommen, noch fragen: War Ihr Kunstprojekt ein guter Anlass, manche Dinge zwischen den Generationen auf den Tisch zu bringen? Wenn Sie auch sagen, Sie sind mit Ihrem Vater dort gewesen und haben diese Archivalien in Empfang genommen.

Eigentlich schon, nur dass bei meinen Eltern leider, besonders bei meiner Mutter, mein Vater war da noch offener, der Wille sich damit auseinanderzusetzen sehr gering war. Vielleicht kann man das so gar nicht sagen, sondern die Fähigkeit war nicht wirklich dazu da. Es ist zu tabuisiert, zu schmerzhaft und zu belastet. Meine Eltern haben beide anders reagiert. Mein Vater hat das eher abgetan, warum wollen wir jetzt wissen, was da eigentlich genau war. Für meine Mutter war es zu schmerzhaft, die hat es eher aus dem Schmerz heraus nicht versuchen wollen, in eine Auseinandersetzung zu gehen. Es wäre eine gute Chance gewesen, aber letzten Endes ist sie im Rahmen meiner Familie nicht so angekommen. Meine Geschwister haben das eher angenommen, fanden das super und haben mich in den offenen Konflikten unterstützt.

Also doch wieder die Erfahrung, dass die Generationalität da eine wichtige Rolle spielt.

Ja, im Grunde, wenn ich das mal so ganz platt sagen kann, ist die Aufgabe meiner Generation hinzuschauen oder zumindest zu versuchen, aufzudecken, einen Diskurs anzustoßen oder das irgendwie mal zu thematisieren.

Sie haben es gerade schon mal angesprochen, auch mit dem Vater Ihrer ungarischen Mutter haben Sie sich beschäftigt. Erzählen Sie doch die Geschichte und beschreiben Sie kurz dieses Bild.

Man muss wissen, mein Großvater war Jurist, sehr zielstrebig, gut und begabt. Bevor der zweite Weltkrieg losging, war er in einer guten Position als Richter und hätte sicherlich eine gute Karriere vor sich gehabt. Dann kam, was alles so kam, sein Leben brach entzwei, nach dem Krieg wurde ihm sein Diplom entzogen und er musste in einer Fabrik arbeiten. Ein klassischer Lebenslauf eines Akademikers zu dieser Zeit in Ungarn. Davon gab es sehr viele. Dann saß er auch nach der Revolution 1956 im Gefängnis. In der zweiten Hälfte der 1950er hat er sich Buchhaltung beigebracht und ist in der Stadt, wo sie in Ungarn gelebt haben, weil er dort natürlich auch viele Leute kannte, bei einem Funktionär angestellt worden. Das war eine große Sache und es gab sozusagen einen nicht ausgesprochenen Deal. Er musste mit den Kollegen in Anführungsstrichen saufen gehen. Das bekam meinem Großvater nicht sehr.

An einem Abend, laut der Erzählung meiner Mutter an Ostern, haben sie ihn so betrunken gemacht, dass sie ihm den halben Bart abrasiert haben. Mein Großvater hatte einen prächtigen Bart und das war in Ungarn vor dem zweiten Weltkrieg wie ein Statussymbol. Wir wissen ja historisch, dass das Abschneiden der Haare und auch des Bartes, mein Vater hatte einen Schnurrbart, eine Form von Degradierung und Erniedrigung, also praktisch das Wegnehmen der Macht, der Kraft oder der Potenz symbolisiert. Sie haben ihm den halben Bart abgeschnitten. Er kam also sturzbesoffen mit einem halben Bart nach Hause. Diese Degradierung war für seine Frau, meine Oma, und meine Mutter ein unglaubliches traumatisches Ereignis. Es war nicht nur eine Erniedrigung, sondern er war danach auch einer von ihnen, denn er hätte auch immigrieren können. Nach 1956 sind ganz viele geflohen, meine Mutter ist 1962 geflohen. Er ist aber geblieben, sie sind geblieben und er hat sich im Grunde arrangiert.

Dieses Ereignis zeigt beides, diese Erniedrigung, dieses zerstörte, entzwei gebrochene Leben, also das nicht gelebte Leben, aber auch gleichzeitig das Arrangement mit den neuen Verhältnissen. Es war ein Initiationsritus, den man kennt. Dazu haben wir eben ein Bild gemacht, ein Stickporträt, ihn mit einem halben Bart. Dass ich versucht habe dieses Drama sichtbar zu machen, war für meine Mutter ein hochgradig inakzeptabler Akt. In Verbindung mit meinem deutschen Großvater entsteht ein Topos. Dieser Topos, da ist was und es ist gleichzeitig auch nicht, war so ein Hauptpunkt, worum wir immer gekreist sind. Dieses Doppelte, Doppelbödige, dass etwas vorhanden ist, aber gleichzeitig ist es nicht vorhanden, es wird weggemacht. Dieser tabuisierte Zusammenhang zwischen diesen beiden Dingen stand im Mittelpunkt der Ausstellung.

Sie haben jetzt erzählt, was der Preis für Sie war bei dieser Auseinandersetzung in der Familie rund um das Projekt. Aber was hat die Ausstellung gesellschaftlich ausgelöst in den Ländern? Wie war die Reaktion vom Publikum?

Wir haben bisher nur diese zwei großen Ausstellungen in Ungarn gezeigt. Dort ist es sehr gut angekommen. Die Leute haben sehr gut darauf reagiert und es gab viele gute Diskussionen. Da war eine große Offenheit, muss ich sagen.

Sie haben gerade beschrieben, wie Sie persönlich, aber auch über Ihre Arbeit in Ungarn versucht haben, blinde Flecken zu suchen und zu bearbeiten, Impulse zu setzen. Wir wollen ja immer fragen, wie die Vergangenheit auch die Gegenwart prägt und umgekehrt. Ungarn ist ein Land, was viele mit seinem eher illiberalen antidemokratischen Kurs in den letzten Jahren erschreckt hat. Hat Sie das überrascht, haben Sie das kommen sehen? Gibt es aus Ihrer Innensicht doch mehr Verständnis für das, was sich da entwickelt hat?

Das ist eine schwierige, komplexe Frage. Ungarn ist, wenn man sich den ehemaligen Ostblock anschaut, nicht allein mit dieser Entwicklung. Es ist wie eine Pendelbewegung. Wenn man sich Ungarn rückblickend anschaut, ist es oft so gewesen. Dazu gibt es diese Theorie der Pendelstaaten, die immer von der einen Seite zur anderen Seite pendeln. Wenn man lange etwas wegdrückt und sich dann ein Raum öffnet, dann springt es natürlich hoch wie ein Ball unter Wasser, wenn man ihn loslässt. Ich empfinde es schon so, dass vieles zu erwarten war oder dass man sich auch vorstellen konnte, dass solche Kräfte wirken. Grundsätzlich denke ich, dass die Situation in Ungarn sehr schwierig ist. Aus meiner ganz persönlichen Perspektive, in den Jahren, die ich in Ungarn gelebt habe, war es sehr seltsam und erschreckend, sich plötzlich die Frage zu stellen, darf ich da jetzt ausstellen? Geht das jetzt? Wie positioniert man sich? Das ist schon alles nicht so einfach.

Es gibt eine Arbeit, die ich sehr mag, die József, der Künstler, mit dem ich lange zusammengearbeitet habe, schon vor vielen Jahren gemacht hat. Er hat Lentikularbilder gemacht, die so wechseln. Er hat sich zweimal hingestellt: einmal hat er die Hand in die rechte Seite gestreckt und sein linkes Auge abgedeckt und danach umgekehrt. Es ist immer wahnsinnig einseitig, auch in der Berichterstattung über Ungarn. Ein Diskurs, der versucht, die Situation etwas breiter zu kontextualisieren, oder einen neutraleren Diskurs darüber zu führen und sich beide Seiten anzuschauen, ist sehr schwierig.. Dadurch entsteht ein Vakuum, ein Loch, was schnell gefüllt werden kann. Es ist ganz einfach, dass sich da dann plötzlich was ausbreitet und reinsprengt. Das, glaube ich, ist ein sehr großes Problem. Obwohl ich halb Ungarin bin, ich fließend Ungarisch kann, ich Jahrzehnte in Ungarn verbracht habe, bin ich trotzdem immer auch ein bisschen ein Außenstehender. Es ist alles komplex, vieles ist tabuisiert, nicht aufgearbeitet, und durch das Vakuum wird es besetzt. Aus meiner künstlerischen Perspektive und aus der Sicht des ganzen Kultur- und Identitätsbereich ist es ein sehr schwieriger Punkt, dass die jetzige Regierung mit einer wirklich ekligen populistischen Kitschparade eben diesen Raum zukleistert und so besetzt, dass eine wirkliche Auseinandersetzung sehr erschwert wird.

Schon mal vielen Dank dafür, wie tief Sie uns mit nach Ungarn genommen haben: in Ihre eigene Familie, aber auch in die Arbeiten, in die Auseinandersetzung mit dem Land und der dortigen Erinnerungskultur. Ich will jetzt gerne weiterziehen in einen postsowjetischen Raum, nach Armenien. Sie haben sich jahrelang künstlerisch mit der Stadt Mezamor, nahe der armenischen Hauptstadt Eriwan, auseinandergesetzt und haben damit einen Zugang eröffnet zu einer, wie Sie das nennen, Stadt ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. Für Sie ist diese Stadt ein Symbol für hochfliegende Träume und den Umgang mit den gescheiterten Utopien des Sozialismus geworden. Vielleicht können Sie uns diesen unglaublichen Ort aus Armenien einmal kurz vorstellen.

Wie gesagt, ich fahre seit 20 Jahren regelmäßig nach Armenien. Das ist ein Land, ich kann nicht genau erklären warum, aber es war Liebe auf den ersten Blick. Ich habe dann 2014 einen Architekten kennengelernt, Sarhat Petrosyan, der sich neben seiner Arbeit als Architekt sehr viel mit Cultural Heritage und diesen ganzen Urban Space beschäftigt hat und da viele Projekte gemacht hat. Er hat sich mit dieser Stadt Mezamor, praktisch die Atomstadt, die für die Arbeiter des Atomkraftwerkes gebaut wurde, was in der ehemaligen Sowjetunion üblich war, beschäftigt.

Die Stadt, das ist das ganz Spezielle an Mezamor, ist nämlich von einem einzigen Architekten geplant worden. Es gab kein Dorf, neben dem sich die Stadt entwickeln hätte können, sondern sie ist wirklich vonzero aus in der zweiten Hälfte der 60er geplant worden. Sarhat hat sich damit beschäftigt und mich eingeladen, das Ganze fotografisch zu begleiten und fotografisch zu untersuchen. Das haben wir mehrere Jahre zusammen gemacht und am Ende ist 2018 das Buch »Utopia und Kollaps« ganz sinnbildlich erschienen. Mezamor ist bis 1988 zu etwas mehr als der Hälfte gebaut worden. 1988 gab es dieses verheerende Spitak-Erdbeben, eines der stärksten Erdbeben im letzten Jahrhundert. Das Atomkraftwerk wurde dann abgeschaltet. Damit endete auch der Bau der Stadt, und sie blieb ein Torso. Als Armenien 1992 unabhängig von der ehemaligen Sowjetunion wurde, wurde der Energiehahn abgedreht und die Stadt sich selbst überlassen.

Mesamor ist architektonisch irre interessant, das ist ein Wahnsinnsort. Die Stadt wurde so geplant, dass in der Mitte praktisch ein Strang verlaufen sollte. Dort befanden sich die Büros, die Verwaltung, das Rathaus, die Post, das Kulturhaus, Hotel, die Musikschule und am Ende das allerwichtigste: die Rekreation, der Sportkomplex. Dieser Sportkomplex hat eine Besonderheit. Es gibt drei große Sporthallen und dahinter ist ein großer Pool, ein Artifcial Lake, gebaut worden mit einer Plattform, auf die man hochgehen kann. Dort sollte ein Café sein und es sollte ein View Point werden. Jetzt muss man sich vorstellen, dass die Stadt genau zwischen den beiden großen Bergen Aragaz und dem Ararat, dem Heiligen Berg der Armenier, liegt. Der Aragaz liegt noch in Armenien, der Ararat gehört schon zur Türkei. Mezamor liegt also ganz nah an der Türkei. Das sind gerade mal, ich weiß nicht, 20 oder 30 Kilometer bis zur Grenze. Auf dieser Plattform guckt man also geradeaus auf den Aragaz, ein bisschen nach links ist dann das Atomkraftwerk und dann dreht man sich um und sieht die Stadt und den Ararat. Dazwischen ist dieser Sportkomplex mit dem Artificial Lake und der Plattform.

Der Komplex mit diesem künstlichen See ist genau 1988 fertig geworden, Da war aber nie Wasser drin, er ist nie genutzt worden. Die Aura dieses Ortes ist unglaublich stark, weil man in dieser Kulisse wirklich in the middle of nowhere steht. Das schafft diesen utopischen Moment, diese Utopie, dieser Wahnsinn und dann aber das totale Scheitern, da ist nichts. Das hängt in einem Loop, und man weiß nicht, was ist jetzt eigentlich?

Sie haben mir gesagt, dass Sie gerade in Armenien gewesen sind, als dort vor etwas mehr als einem Jahr der Konflikt um die Region Bergkarabach zwischen Armenien und Aserbaidschan wieder in eine kriegerische Auseinandersetzung gemündet ist. Deshalb meine Frage nach der Stimmung heute: Überwiegen bei den Menschen, die Sie treffen, in dem Umfeld, das Sie wahrnehmen, die Träume von der besseren Zukunft für Armenierinnen und Armenier, oder zerplatzen gerade wieder viele Möglichkeiten, Chancen und Perspektiven?

Das war furchtbar. Ich meine, ich liebe Armenien, ich habe eine sehr lange und spezielle Beziehung zu Armenien, auch wenn ich da noch ein ganz anderer Außenstehender bin als in Ungarn. Für Armenien habe ich schon eine große Distanz neben der Liebe. Dieser Krieg war furchtbar, das war ein wahrer Albtraum und er hat meine Perspektive verändert. Ich habe sehr viel gelernt oder verstanden. Die Situation, in der die Armenier sind, ist sehr problematisch, eingekeilt zwischen der Türkei und Aserbaidschan und abhängig von Putin. Es ist im Grunde eine Pattsituation. Was mir auch letztes Jahr klar wurde, was ich vorher in den 20 Jahren auch gesehen und gewusst habe, aber nicht in der Dimension empfunden habe, ist das Trauma des Genozids und vor allen Dingen des nicht anerkannten Genozids. Das wird praktisch fortsetzt, diese Überlebensvernichtungsangst, und der Konflikt ist ja noch nicht gelöst. Ich verstehe viel zu wenig von den Hintergründen und den politischen Machenschaften, die seit Jahrzehnten da laufen. Man kann nur hoffen. Es verlassen auch wahnsinnig viele das Land. Was für mich als Außenstehende ganz schwierig war, war einerseits diese Brutalität, diese Überlebens-, diese Vernichtungspanik, und dann aber ein unglaublich nationaler Pathos, den ich noch nie gesehen hatte. Dagegen ist das in Ungarn Pipifatz, um es mal etwas platt und provokativ zu sagen. Das war ein Pathos von Heldentum in einer ganz schwierigen mélange. Nach dem Krieg muss man das ausblenden, um zu überleben und auch leben zu können. Ich weiß auch nicht, wie das weitergehen soll. Was die da alles machen, Herr Putin, Herr Erdoğan, Herr Paschinjan, alle die da noch dabei sind im Hintergrund oder immer waren, auch die ganzen Kräfte, die in Armenien vor Paschinjan waren. Das ist ein sehr schmerzhafter Punkt, soweit ich das verstanden habe, der auch die armenische Gesellschaft sehr spaltet. Da hatten sie ihre Samtene Revolution, auf die sie so wahnsinnig stolz waren, den Versuch, in dieser Region eine Demokratie aufzubauen und die Korruption loszuwerden. Das versuchen sie wirklich, soweit ich das erlebt habe. Sie haben wirklich dran geglaubt und es war ein riesiges Ding, diese Revolution, das muss man erstmal machen. Da kann sich Ungarn echt ein Beispiel drannehmen. Dann das Scheitern und der Krieg, und jetzt ist die Gesellschaft sehr gespalten. Europa will eigentlich nichts von Armenien, Armenien steht sehr allein da, und das ist traumatisch.

Sie arbeiten in allen Ländern immer auch mit jungen Leuten in Projekten. So haben wir uns auch kennengelernt, in einem Projekt, was wir mit Partnern ausgerichtet haben, #30PostSovietYears – Phantom Pasts or Everyday Present, in dem Sie junge Menschen aus 14 Ländern ermächtigt haben, selber mit Fotografe auszudrücken, wie sie auf das postsowjetische und sozialistische Erbe schauen. Ist es genauso schwer für Menschen, die heute 20 sind, wie für Menschen in, ich sage mal, unserem Alter?

In unserem und auch in anderen Projekten habe ich gemerkt, dass diese junge Generation schon eine andere Leichtigkeit hat. Sie hat einen anderen Zugang und eine andere emotionale connection zu diesen ganzen Themen. Ich finde das sehr positiv, weil es nicht immer dieses traumatisch Besetzte hat. Ungarn ist in der EU, die wissen gar nicht, wie gut das ist. Ich habe noch in den 70ern eine Grenze und Visapflicht erlebt, da durften manche nicht kommen. Dieses volle Programm habe ich alles noch miterlebt und es hat mich grundlegend geprägt. Die heutigen jungen Leute kommen einfach nach Deutschland.

Wir haben da ein Gefälle. Wir sitzen hier im Westen und haben, wenn ich das wieder etwas platt formulieren darf, eine Arroganz. Damit meine ich in erster Linie nicht die Menschen, sondern diese ganze Bürokratie und wie wir mit einem Land bürokratisch betrachtet, von Botschaften und diesen ganzen Dingen her, umgehen. Es gibt ein richtiges Gefälle, wenn man von Deutschland aus schaut, aber man beschäftigt sich nicht damit.

Das ist ja der Podcast History and Politics mit Fokus auf den Disziplinen Politikwissenschaft und Geschichtswissenschaft. Aber wir sprechen ja heute extra mit Ihnen, um uns zu fragen, wie denn die Kunst bei Fragen von Identitätsfindung, bei Transformation begleiten kann. Was glauben Sie, kann sie beitragen, was vielleicht die Geschichtswissenschaft nicht hinkriegt oder wo ihr andere Grenzen gesetzt sind?

Als Künstler ist man einerseits in einer Nische, in einem Freiraum. Man darf mehr und das ist, glaube ich, auch die Aufgabe. Ich habe einen ganz anderen Raum und Möglichkeiten, sagen wir mal, zu provozieren, zu hinterfragen und einfach Sachen in den Raum zu stellen.

Wir sind mit Ihnen von der Mikroebene aus gestartet und haben ein bisschen reingeschaut nach Deutschland, Ungarn und Armenien. Dabei ist klargeworden, wie genau man hinschauen sollte und was alles zusammenspielt in der Geschichte des 20. Jahrhunderts im Raum Mittel- und Osteuropa. Daher die Frage am Ende: Sind die Kategorien Ost und West heute noch relevant, weil sie Erfahrungen auch aus unterschiedlichen Ländern miteinander verbinden, oder würden Sie sagen, nein, da müssen wir weiterziehen?

Ich denke, dass wir weiterziehen müssen. In meiner ganz persönlichen Geschichte haben mich die Kategorien Ost und West grundlegend geprägt im Kalten Krieg. Aber sie greifen einfach nicht. Wenn ich es mir differenzierter und tiefer anschaue, dann sind die Lebensgeschichten meiner beiden Großväter ziemlich gleich. Es gab äußere Gegebenheiten, äußere historische Größen, die diese beiden Menschen versucht haben, irgendwie zu meistern, an denen sie letzten Endes betrachtet gescheitert sind. Das Leben hatte einen Bruch, den sie nicht überwinden konnten. Sie sind ganz ähnlich damit umgegangen, haben tabuisiert, sind traumatisiert und haben sich dann irgendwie arrangiert, so das Klassische. Ich habe die Erfahrung gemacht, auch in meinem eigenen Leben, das hebt sich auf. Wir halten diese Kategorien fest und haben unsere schönen Vorurteile, setzen uns da rein und dann gibt es dieses gewisse Gefälle. Aber das ist nicht mehr funktionabel.

Wir sollten andere Größen, Kategorien und Denkweisen aufbauen. Eine andere Form, wie wir anderen Nationalitäten begegnen. Gleichzeitig haben wir das Erbe, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen. Das Erbe ist aber von allen drei Ländern, die ich jetzt kenne, nicht so wahnsinnig unterschiedlich. Wir sind schon ein Kulturraum, auch die Armenier. Egal, ob wir sie aus europäischer Sicht, was sehr schmerzhaft ist, nicht ernst nehmen oder dass Europa sich nicht für sie interessiert. Das ist schlimm, weil sie voll und ganz zu unserem Kulturraum gehören. Im Grunde bräuchten wir andere Denkweisen und andere Modelle. Was ich hier in unserem Projekt gesehen habe und immer sehe, wenn ich mit jungen Leuten zu tun habe, ist eine andere Offenheit, denke ich.

Ich bedanke mich sehr für dieses Gespräch über die Macht der Geschichte, über die blinden Flecken und das Kleine im Großen und das Große im Kleinen. Vielen Dank.

Ich bedanke mich auch. Herzlichen Dank.

Das war unser History and Politics Podcast mit Katharina Roters zu der Frage, wie Kunst im postsowjetischen und postsozialistischen Raum zur Erinnerungskultur beitragen kann. Links mit weiteren Informationen zu den Arbeiten von Katharina Roters finden Sie unter dem Manuskript der aktuellen Sendung. Alle weiteren Informationen zur Arbeit des Bereichs Geschichte und Politik der Körber-Stiftung finden Sie auf unserer Stiftungswebsite. Da gibt’s natürlich auch alle aktuellen Folgen des History andPolitics Podcasts.

Das war‘s für heute, wir danken Ihnen für‘s Zuhören und hoffen, dass Sie auch das nächste Mal wieder dabei sind, wenn wir fragen, wie die Geschichte unsere Gegenwart prägt. Tschüss, machen Sie es gut, und bleiben Sie vor allem gesund!

Weiterführende Links

Person und Werk von Katharina Roters (in engl. Sprache)

Publikation »Utopia & Collapse. Rethinking Metsamor. The Armenian Atomic City«

Informationen zur Ausstellung »Hack the Past« und »Wunderblock« (Einführung in englischer Sprache)

Fotos aus der Ausstellung sind auf der ungarischsprachigen Website zu sehen.

Ergebnisse des europäischen Jugendprojekts #30PostSovietYears Phantom Pasts or Everyday Present?

Artwork: Geschichte ist Gegenwart! Der History & Politics Podcast der Körber-Stiftung

Geschichte ist Gegenwart! Der History & Politics Podcast der Körber-Stiftung

Warum Geschichte immer Gegenwart ist, besprechen wir mit unseren Gästen im History & Politics Podcast. Wir zeigen, wie uns die Geschichte hilft, die Gegenwart besser zu verstehen.

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