Belarus – Über Proteste, Demokratie und Diaspora

Geschichte ist Gegenwart! Der History & Politics Podcast der Körber-Stiftung

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  • Geschichte
  • 39 Min.
  • 24. Episode

In Belarus demonstriert die Bevölkerung seit August 2020 für demokratische Reformen. Regierung und Behörden gehen massiv gegen die Proteste vor und der Rest Europas bleibt überwiegend in der Rolle des Zuschauers. Die belarussische Philosophin Olga Shparaga spricht über die Ziele der Protestbewegung, welche Rolle nationale Symbole und die belarussische Geschichte für die Demokratiebewegung spielen und welche Unterstützung die Menschen in Belarus von europäischen Nachbarn brauchen.

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„Belarussen haben die ganze Zeit während der Proteste gesagt, wir brauchen überhaupt keine Elite, wir wollen jetzt die aktiven Bürgerinnen sein und im sozialen Sinne vernetzt werden. Wir haben eine nicht homogene Gesellschaft gesehen, die aus älteren Leuten, Frauen, Leuten mit Behinderungen, Studentinnen und anderen besteht.“

Olga Shparaga, belarussische Philosophin

Hallo und herzlich Willkommen zu einer neuen Folge von History and Politics, dem Podcast der Körber-Stiftung zu Geschichte und Politik. Auch heute sprechen wir wieder mit einem Gast darüber, wie die Vergangenheit die Gegenwart prägt und beeinflusst.

In dieser Folge geht es um unser europäisches Nachbarland Belarus. Genauer gesagt, um die gesellschaftliche und politische Situation dort seit dem Beginn der landesweiten Proteste gegen die Präsidentschaftswahl im August 2020. In unserem Gespräch fragen wir nach den Beweggründen und Zielen dieses Protests und auch danach, welche Rolle nationale Symbole und die belarussische Geschichte in der Demokratiebewegung spielen.

Wie hat sich die Gesellschaft in Belarus seit August 2020 verändert? Welche gemeinsamen Themen gibt es unter denjenigen, die sich seit Monaten für demokratische Rechte in Belarus einsetzen? Wie kann die Bedeutung von Nation, Nationalstaat und nationaler Unabhängigkeit für die Proteste der vergangenen Monate eingeordnet werden? Und welche Unterstützung wünschen sich die Menschen in Belarus von ihren europäischen Nachbarn in der EU?

Darüber habe ich mit der belarussischen Philosophin Olga Shparaga gesprochen. Olga Shparaga lehrt Philosophie am European College of Liberal Arts, das sie im Jahr 2014 mitbegründet hat. Sie ist Mitglied im Koordinationsrat rund um die belarussische Oppositionspolitikerin Svetlana Tichanowskaja und ist dort für Bildungsfragen zuständig. Olga Shparaga wurde im Oktober 2020 bei einer Demonstration in Minsk verhaftet und verließ Belarus nach mehrtägiger Haft in Richtung Litauen, wo sie derzeit lebt.

Liebe Olga Shparaga, ich würde gern zum Anfang unseres Gesprächs auf Ihre persönliche Situation kommen. Sie haben Belarus verlassen. Sie waren inhaftiert für einige Tage und haben danach Belarus verlassen und leben seitdem hauptsächlich in Vilnius in Litauen. Wie würden Sie Ihre persönliche Situation beschreiben? Sind Sie im Exil oder sind Sie auf der Flucht, was sind Sie genau?

Für mich ist es nicht so einfach, auf diese Frage zu antworten. Ich bin irgendwie nicht in Belarus und doch bleibe ich in Belarus, weil ich mit meinen Gedanken und mit meinen Gefühlen, mit dem ganzen Herzen noch immer in Belarus bin, da ich viel für Belarus mache: Ich arbeite an einem Buch über Belarus, ich arbeite in einem Team im Office von Swjatlana Zichanouskaja und an Bildungsfragen und habe noch viele weitere Verbindungen. Ab und zu bemerke ich nicht, dass ich außerhalb von Belarus bin oder vielleicht die größte Zeit bemerke ich das nicht.

Der Unterschied liegt darin, dass ich mich jetzt außerhalb von Belarus natürlich sicher fühle. In Belarus ist die Situation so: die Leute fühlen sich gestresst, weil die Repressionen weitergehen. Ich bin von diesem Stress der Repressionen befreit. Aber weil ich so viel für Belarus mache, fühle ich mich sehr stark mit Belarus verbunden. Andererseits finde ich auch hier in Vilnius einen Platz. Natürlich würde ich gerne nach Hause gehen, um meine Eltern zu besuchen und diese Situation erlaubt es mir im Moment nicht, nach Belarus zu gehen. Das stört mich natürlich. Aber irgendwie denke ich auch, ich mache jetzt viel und will mich auch weiter für Belarus engagieren und auch außerhalb von Belarus für die Sachen, die hier passieren, Fragen der Demokratie, Feminismus, das alles interessiert mich auch in Litauen, in Deutschland und in vielen anderen Ländern. Für mich ist es wichtig und auch interessant, an dieser internationalen Agenda teilzunehmen.

Wie würden Sie denn aktuell die gesellschaftliche Situation in Belarus beschreiben? Sie haben eben schon kurz drauf hingewiesen, dass der Druck gegen die Menschen, die weiterhin protestieren, immer noch sehr hoch ist. In der Vorbereitung auf unser Gespräch habe ich einen Text von dem belarussischen Schriftsteller Viktor Martinowitsch gelesen, der sehr nüchtern beschreibt, dass es gar keine Nischen mehr gibt, dass eigentlich alles unter Kontrolle ist und sämtliche Nischen verschwunden sind. Teilen Sie diese Beobachtung?

Eigentlich nicht. Ich war mit Victor Martinowitsch nie so richtig einverstanden, auch vor der Revolution nicht, weil er eine bestimmte Sichtweise und Perspektive auf Belarus hat. Er war immer pessimistisch, auch vor der Revolution. Ja, einerseits haben wir jetzt eine andere Phase der Revolution. Ich verteidige den Begriff der »Revolution im Prozess«, in progress. Die erste Etappe war mit dem Umbruch der Gesellschaft verbunden. So einen Umbruch hatten wir noch nie in unserer Geschichte, in unserer neuesten Geschichte nach 1991. So viele Leute, so viele Gruppen waren noch nie engagiert in den Protesten und waren noch nie so vernetzt und vereinigt. Jetzt haben wir eine zweite Etappe, in der alle diese Gruppen auf partisanische Art und Weise weiter tätig sind. Aber es gibt auch sichtbare Zeichen, dass Leute, wenn sie nicht protestieren weiter in der Situation des Widerstandes bleiben. Zum Beispiel hunderte oder sogar tausende Leute schreiben Briefe an politische Gefangene, die Leute gehen zu den Gerichten.

Also sie verfolgen bei Gericht die Verhandlungen, das meinen Sie.

Ja. Die Leute bleiben in Telegram-Kanälen, die während der Revolution entstanden sind, zum Beispiel im Rahmen von Nachbarschaften. Die Vernetzung durch Nachbarschaften war sehr stark und die Leute bleiben in dieser Kommunikation. An den Universitäten gibt es Aktivitäten, obwohl das alles nicht so sichtbar ist. Das heißt, neue Strukturen oder Protostrukturen, Vernetzungen sind entstanden und die Leute versuchen weiter zu kämpfen. Das ist nicht einfach, aber es gibt viele Zeichen, dass Leute weitermachen. Die Repressionen sind auch stärker geworden. In verschiedenen Bereichen, zum Beispiel an den Universitäten, gibt es jetzt Rektoren für Sicherheit und man prüft die ganze Zeit, ob Studenten und Studentinnen irgendwas organisieren wollen. Aber Studentinnen versuchen weiter die Fahnen aufzuhängen, bis heute.

Also eine Fortsetzung des Umbruchs der Revolution von unten, sozusagen zu versuchen, vor Ort, da wo es möglich ist, Zeichen zu setzen.

Ja und auch auf verschiedene Weise miteinander zu kommunizieren, das geht weiter meiner Meinung nach.

Sie sprechen über die Revolution und beschreiben die verschiedenen Phasen. Ich finde ganz interessant, dass jetzt in Kürze auf Deutsch ein Buch von Ihnen erscheinen wird über die Revolution in Belarus, wo Sie davon sprechen, dass die Revolution weiblich, friedlich und postnational ist. Ich glaube, weiblich und friedlich das haben viele verstanden, die seit fast einem Jahr die Bilder aus Belarus verfolgen. Aber das mit dem postnational, das wäre schön, wenn Sie das erklären könnten, was meinen Sie damit?

Einerseits existieren wir immer noch im System der nationalen Staaten und Belarus ist auch ein nationaler Staat mit Grenzen und Autonomie. Die Frage ist nun, wie Leute die Gemeinschaft, die soziale Verbindungen interpretieren. In diesem Sinne im Verständnis von Benedict Anderson, der über die nationale Gemeinschaft in den 80er Jahren geschrieben hat, interpretiere ich die Situation in Belarus und das Selbstverständnis von Belarussinnen als postnational, als nicht national. Warum? Weil, wenn wir den Benedict Anderson Bezug machen, dann sagt er, dass für die Konstitution des nationalen Imaginierens, von nationaler Gemeinschaft, der Bezug auf die Vergangenheit sehr wichtig ist. Die Vergangenheit wird dabei nicht vieldimensional interpretiert, sondern immer aus einer bestimmten Perspektive. Für mich gibt es viele Widersprüche bei diesem Begriff der Nation. Es gab so viele Streits, was Nation bedeutet und es gibt so viele Ideen, dass ich für mich entschieden habe, dass ich über die Gesellschaft spreche und dass wir in diesem Sinne die Züge der postnationalen Gemeinschaft haben. Ja, wir können sagen das ist eine bürgerstaatliche Nation. Aber wenn wir darüber sprechen, dann entsteht unbedingt die Frage: Und was ist mit der kulturellen Nation? Ich denke vielleicht können wir ohne Nation über die belarussische Gesellschaft sprechen, über belarussische Kultur, den belarussischen Staat, die aber nach einer anderen Logik verbunden ist als diese nationale, wo es immer um Homogenisierung, patriarchale Dimension und so weiter geht.

Und was sehen wir in Belarus? Wir sehen, dass die Leute bei diesen Protesten keinen richtigen Bezug zur Vergangenheit hatten. Sie haben sich auf die Gegenwart konzentriert, sie waren gegen Autoritarismus und sie haben sich auf die Zukunft konzentriert, weil sie an Demokratie gedacht haben. Sie wollten vor allem demokratische Veränderungen. Das ist die vernetzte Gesellschaft und es geht dabei nicht um die Eliten. Belarussen haben die ganze Zeit während der Proteste gesagt, wir brauchen überhaupt keine Elite, wir wollen jetzt die aktiven Bürgerinnen sein und im sozialen Sinne vernetzt werden. Wir haben eine nicht homogene Gesellschaft gesehen, die aus älteren Leuten, Frauen, Leuten mit Behinderungen, Studentinnen und anderen besteht. Ich denke, dass diese nicht homogene Gemeinschaft auch ein Zeichen der postnationalen Gemeinschaft ist. Man kann auch sagen, dass kulturelle Identität in Belarus nie so wichtig war, sondern dass die politisch soziale Identität oder Identitäten am wichtigsten gewesen sind. Wenn wir über kulturelle Identitäten sprechen, dann gibt es die Vielfalt von diesen Identitäten. Eines der Zeichen, der Symbole unserer Proteste, war das Porträt von Eva von Chaim Soutine aus 1928, das ist ein jüdisches Porträt. Niemand hat die Frage gestellt, ob jüdische Kultur ein Teil von der belarussischen ist, das war selbstverständlich. Aber die Diskussionen vorher in Belarus, die nationalistisch markiert wurden, hatten immer Probleme mit dem jüdischen Erbe. Während dieser Revolution hatten wir so viele verschiedene Gestalten, die auf einmal durch das Streben zur Demokratie verbunden wurden.

Dann habe ich noch eine Frage, denn da ist ja ein Bild, was sehr dominiert hat in den Protesten und bis heute immer noch dominiert. Das ist die weiß-rot-weiße Fahne, die gewissermaßen als Symbol der Protestbewegung gilt. Diese Fahne bezieht sich auf die erste belarussische Volksrepublik 1918 und da wüsste ich gerne, was ist das dann für ein Symbol? Wenn Sie sagen, das ist eine postnationale Revolution, warum dann diese Fahne?

Diese Frage wurde die ganze Zeit diskutiert, auch während der Proteste und während der Revolution in Belarus. Zum Beispiel haben die soziologischen Befragungen während der Proteste gezeigt, dass die Leute diese Fahne nicht mit der Geschichte verbinden. Die Leute wissen natürlich, dass diese Fahne Geschichte hat, aber vor allem haben sie diese Fahne als eine Alternative für die staatliche Fahne interpretiert. Die offizielle staatliche Fahne bedeutete nach den Terrortagen vom 09.-12. August Gewalt und man brauchte Symbole, die eine Alternative versprechen. Vorher wurde diese Fahne von der nationalistischen Opposition mit verschiedenen Agenden benutzt und deswegen existierte diese Fahne schon als ein wichtiges Zeichen der Opposition. Ich würde sagen die Leute haben diese Fahne weniger von dieser nationalistischen Agenda aus genommen, sondern vor allem als Symbol der Veränderungen und als Symbol der Alternative. Interessant ist auch, dass am ersten großen Wochenendmarsch, am 16. August, mit dieser Fahne eine große Skulptur im Zentrum von Minsk umhüllt wurde, die »Mutter des Sieges«-Skulptur, die den Sieg im zweiten Weltkrieg symbolisiert. Beim nächsten Marsch haben Lukaschenko und das Regime diese Skulptur mit einem Draht bewahrt. Das bedeutet eigentlich, dass die Leute in Belarus die offizielle Ideologie mit dieser nationalistischen, postnationalistischen, alternativen Ideologie verbinden wollten und das Regime mit Waffen und dem Einsatz von Soldaten bei jedem weiteren Marsch gezeigt hat, dass das Regime nicht erlaubt, verschiedene Symbole zu verbinden, zu appropriieren, diese Geschichten zu appropriieren. Diese Proteste zeigten, dass Leute wirklich verschiedene Symbole verbinden und sowjetische Symbole, sagen wir so, nicht einfach ablehnen. Wir werden diese Symbole auch als Teil unserer Gegenwart wahrnehmen und akzeptieren. Und das wollte das Regime nicht. Die Leute haben nicht gesagt, die sind auf unserer Seite, diese Leute und die anderen auf der anderen Seite, sondern wirklich diese Brücke aufgebaut und das war für die Proteste die ganze Zeit sehr wichtig.

Mich überrascht tatsächlich als Betrachterin von außen, dass Sie sehr stark in diese Richtung argumentieren, dass die Geschichte keine Rolle spielt oder keine große Rolle spielt bei diesen Protesten. Und ich würde gerne einen vergleichenden Blick mit Ihnen nach Russland werfen, wo es ja durchaus ein Zeichen der Offenheit oder auch des Widerstands ist, wenn zum Beispiel Organisationen wie Memorial und andere einfordern, sich kritisch mit der Geschichte des Stalinismus auseinanderzusetzen. Und es wäre ja durchaus vorstellbar, dass eben auch als Teil der belarussischen Proteste es jetzt Organisationen gäbe, die sagen, wir müssen uns auch kritisch zum Beispiel mit dem Stalinismus in unserem Land und mit der Geschichte des Stalinismus auseinandersetzen. Aber Sie sagen, es ist wirklich momentan sehr auf die Gegenwart und vor allen Dingen auf die Zukunft bezogen. Und diese Stalinismus-Debatte spielt keine Rolle an dieser Stelle.

Weil es keine Räume dafür gibt. Die Leute denken jetzt daran, wie man den Repressionen Widerstand leistet und einander unterstützt und man nimmt auf die Geschichte nicht so einen starken Bezug. Aber über Stalinismus hat man doch gesprochen, weil man diese repressiven Taktiken mit dem NKWD, mit stalinistischen Repressionen verglichen hat.

Mit den Repressionen des stalinistischen Geheimdienstes.

Ja. Man macht diese Vergleiche und man sagt, wir haben diese Seite unserer Geschichte wirklich nicht genug kritisiert und das sollten wir machen. In den nationalistischen Narrativen gab es immer schwarz und weiß. Nationalistische, europäische Geschichte wurde immer gut wahrgenommen und die sowjetische Periode immer schlecht. Ich denke, man braucht Reflexion gegenüber der ganzen Geschichte und kritische Fragestellungen. Ich denke, dass man wirklich präzise und kritisch gegenüber allen Perioden der Geschichte sein sollte, auch gegenüber der europäischen Geschichte. Diese Fragestellung war auch ein Schwachpunkt in den nationalistischen Narrativen, weil dort immer noch die Geschichte nicht richtig detailliert und nicht richtig kritisch beleuchtet wird, würde ich sagen. Bestimmte Perioden wurden wirklich ohne Kritik wahrgenommen und die anderen mit einer sehr groben Kritik.

Das wäre dann ja mit Blick auf die zukünftige Entwicklung, wenn ich Sie richtig verstehe, ein Wunsch, dass Sie sagen, es braucht Räume für diese kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte und die Frage ist natürlich, wo können diese Räume entstehen? Frau Shparaga lassen Sie uns noch mal auf die Protestbewegung an sich schauen. Wir haben über die Fahne als ein gewisses einigendes Symbol gesprochen. Aber mich würde interessieren, was gibt es über die Fahne als Symbol hinaus an einigenden Faktoren für diese Bewegung und ist es überhaupt noch eine einige Bewegung?

Das ist so und ein bisschen nicht so. Weil, was war die Entdeckung der Gesellschaft während der Revolution und der Proteste? Die Leute haben plötzlich entdeckt, dass sie Nachbarn haben, das ist eine kleinere Gemeinschaft, dass die älteren Leute auch gemeinsame Probleme haben und sichtbar sein können und in die Öffentlichkeit gehen können. Früher haben Studentinnen kaum protestiert und jetzt plötzlich haben sie verstanden, dass sie für eigene Rechte kämpfen sollten und viele andere, Feministinnen, Frauen, besprechen jetzt auch, dass sie stärker in der Politik engagiert sein sollten. Einerseits scheint es ja, es gibt diese verschiedenen Gruppen und das ist die Zersplitterung, andererseits gibt es diese Idee, dass sie nicht nur durch die Familie und nähere Kreise vernetzt werden können, sondern durch verschiedene soziale Identitäten im beruflichen Bereich. Es gibt jetzt viele Verbindungen im beruflichen Bereich. Gewerkschaften entstehen jetzt in verschiedenen Sphären. Und ich denke, selbst diese Idee, dass Leute auf verschiedene Weisen vernetzt werden können, das verbindet die Leute immer noch. Die Leute streben jetzt dahin, auf diese Idee der Vernetzung und die Entwicklung dieser Vernetzungen nicht zu verzichten. Und deswegen muss man das weiterentwickeln und nicht nur an die eigene Gruppe denken, dass man sich nicht nur mit der eigenen Gruppe solidarisiert sondern auch über die Probleme und Repressionen gegenüber anderen Gruppen nachdenkt.

Also es ist eine Art neues und erweitertes Gemeinschaftsgefühl, was sich da herausbildet?

Ja, ich verteidige so ein Verständnis, es gibt Zeichen davon und die Leute wollen als aktive Bürgerinnen verstehen, wie sie wirklich im politischen Bereich aktiv werden können. Ich bemerke auch bei Studentinnen, dass sie jetzt wirklich Politik besprechen wollen, dass sie verstehen wollen, was Verfassung bedeutet und wie sie aus diesen kleineren Gemeinschaften in den politischen Bereich übergehen und was dann passiert.

Und wo würden Sie sagen sind die Räume für diese Diskussion? Wenn Sie über die Studentinnen sprechen, die über die Verfassung diskutieren wollen und darüber, was Verfassung bedeutet, das passiert dann online oder auf sozialen Medien oder in digitalen Zusammenkünften oder wie passiert das?

Ja, das passiert vor allem online, aber nicht nur. Es bleiben die Institutionen der informellen Ausbildung, obwohl alles jetzt nicht so sichtbar ist, wie es früher gewesen ist. Aber die NGOs arbeiten weiter und das ist auch für mich so überraschend, dass Leute wirklich weiterarbeiten. Es gibt hohe Risiken. Für solche Tätigkeiten kommen heute Leute ins Gefängnis. Und diese Tendenzen bleiben weiter. Künstlerinnen versuchen etwas zu organisieren. Die Leute sind tapfer.

Absolut und ich glaube, die Leute werden für ihre Tapferkeit auch sehr bewundert – das meine ich ganz ernst – von vielen, die außerhalb der Grenzen von Belarus auf die Menschen gucken, die sich nach wie vor einsetzen für ihre Ziele und für demokratische Ziele. Nichtsdestotrotz sind ja auch viele Menschen aus Belarus weggegangen, auch viele jüngere Leute. Also der sogenannte »Braindrain« ist ja ein Faktor, entweder aus Angst vor Verhaftungen oder nach Erfahrungen erster Verhaftungen sind viele außer Landes gegangen. Was glauben Sie, welche Bedeutung hat dieser »Braindrain« für die Zukunft der Proteste oder der Revolution?

Das ist auch nicht eindeutig. Wie alles, was wir jetzt diskutieren. Ein wichtiges Zeichen dieser Revolution ist die sogenannte Erweckung der Diaspora. Früher hatten Belarussinnen keine solche Diaspora wie Armenier oder Ukrainer. Und in dieser Situation bis jetzt zeigt sich, wie viele Leute überall in der Welt ihre Energie und Zeit der Verbesserung und diesem Kampf schenken. Und die Leute, die jetzt ins Ausland gehen, viele nehmen daran teil. Tausende sind weggegangen, aber es gibt einen aktiven Teil. Die Leute aus diesen aktiven Kreisen sagen, wir wollen nach Hause zurückkehren, deswegen werden wir jetzt weiterkämpfen und wir wollen uns auch hier vernetzen und jetzt aus dieser Situation das Beste machen sozusagen. Beispielsweise auch im Bereich der Ausbildung oder Kunst, indem wir hier außerhalb von Belarus lernen und das gelernte nach Belarus bringen. Das gibt natürlich Hoffnung.

Aber es gibt auch die negative Seite: Es war die Idee von Lukaschenko, man versteht das ganz gut, die [kritischen] Leute aus dem Land »rauszuschmeißen«. Er hat darüber nicht einmal gesprochen. Früher, auch eigentlich vor der Revolution, sagte er immer, wer nicht zufrieden ist mit meiner Politik, gehe weg. Das war die ganze Zeit seine Idee. Natürlich werden nicht viele zurückkehren und viele Schicksale sind zerbrochen. Die Leute sind in einer schwierigen Situation. Man weiß nicht, wie es weitergeht mit den Leuten, mit den Schicksalen. Aber es gibt auch zum Glück diese zweite Seite, dass die Leute einander helfen. Ich bin auch die ganze Zeit mit den Leuten aus verschiedenen anderen Staaten in Verbindung, weil ich mit Bildungsfragen zu tun habe, wo Studierende jetzt sind und wir organisieren diese Unterstützung weiter.

Sie versuchen, denjenigen Studierenden, die das Land verlassen mussten und die jetzt in anderen Ländern leben und weiter studieren wollen, zu helfen. Da gibt es tatsächlich ja eine große Unterstützungsbewegung, was auch sehr wichtig ist. So wie Sie die Revolution beschrieben haben, ist es ja keine geopolitische Revolution. Also es geht nicht um die Frage, wie sich Belarus verortet jetzt zur Europäischen Union oder es geht nicht um Mitgliedschaften und Assoziierung. Also es geht eigentlich nicht um Geopolitik, sondern um innere Gestaltungskraft, aber natürlich spielt Geopolitik insofern eine Rolle, als Belarus ein großes Nachbarland hat, nämlich Russland, zu dem es sehr enge Beziehungen unterhält. Und es stellt sich schon die Frage, welche Rolle eigentlich Russland spielt für die Zukunft der Proteste oder der Revolution in Belarus. Also wieviel hängt ab vom Verhalten Russlands und des russischen Präsidenten?

Ja, das ist natürlich eine schwierige Frage und das ist eine breitere Frage über die Rolle von Russland in diesem postsowjetischen Raum. Weil von der Position Russlands ist nicht nur Belarus, sondern Georgien, Armenien und die Ukraine abhängig. Und ich würde sagen, das ist die Frage der breiteren internationalen Gemeinschaft, diese Grenze zwischen Russland und unseren Ländern, uns zu helfen, irgendwie diese Grenze zu besprechen. Belarussinnen verbindet vieles mit der Ukraine, mit Litauen, mit Polen. Die meisten Leute sind nicht nach Russland geflohen, sondern in europäische Länder. Das zeigt schon, dass Belarus auf Europa orientiert ist und ich denke, diese Frage ist nicht nur belarussisch. Das ist für mich wichtig. Ich denke, das ist auch eine große internationale Agenda. Ich hoffe sehr darauf, dass in dieser Agenda Belarus nicht verloren geht und man braucht sozusagen einen neuen Vertrag, denke ich. Weil die osteuropäischen, zentraleuropäischen Länder haben ihren Platz in Europa bekommen und unsere Länder, die an Russland grenzen, sind irgendwie unter einer bestimmten Sonne. Und Russland kämpft dafür, dass wir unter der Macht von Russland bleiben. Meiner Meinung nach soll das nicht nur unsere Frage sein.

Also Sie würden sich wünschen, dass ganz konkret Deutschland und andere Länder der Europäischen Union und die internationale Gemeinschaft den postsowjetischen oder den unabhängigen Staaten im postsowjetischen Raum dabei hilft, die Unabhängigkeit ihrer Staatlichkeit und ihre Grenzen auch zu wahren und sozusagen diese Unabhängigkeit auch zu vollziehen. Da wünschen Sie ich noch mehr Unterstützung?

Ja, das würde ich so sagen. Das ist nicht mein Schwerpunkt, Russland, aber das entspricht auch meiner Idee von einer postnationalen Welt, wo in der Europäischen Union die Staaten stärker verbunden sind. Und die Schicksale von unseren Ländern wurden nicht richtig diskutiert nach 1991, so würde ich das deuten.

30 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion gibt es da noch Hausaufgaben zu tun mit Blick darauf, was die Position von Belarus oder anderer postsowjetischer Länder oder was die Position der Länder im postsowjetischen Raum in der internationalen Gemeinschaft betrifft. Lassen Sie uns noch einmal zum Abschluss ein bisschen über das sprechen, was Ihr eigentliches Gebiet ist. Sie haben schon gesagt, Sie sind aktiv im Koordinationsrat. Sie sind sehr engagiert, auch in der Reformbewegung. Was wären denn die zentralen Reformen, die jetzt als allererstes in Belarus umgesetzt werden müssten, damit die belarussische Gesellschaft sich auf diesen Weg begeben kann? Sie haben gesagt, von Untertanen zu Bürgern und zu einem diversen Gemeinwesen, was braucht es als erstes?

Ich würde aus meinem Bereich sprechen, was wir im Bereich der Bildung besprechen. Wir sprechen über drei Schritte: Erstens, dass die Bildungsinstitutionen von diesem Diktat des Staates befreit werden, von dieser staatlichen Ideologisierung, weil der Staat die Institutionen der Bildung im eigenen Interesse nutzt. Davon sollten die Institutionen befreit werden. Unsere zweite Idee ist die »Debürokratisierung«. Diese bürokratischen Mechanismen sind so entwickelt, dass sie wirklich keine freien Räume für die Entscheidungen in allen Bereichen in Bildungsinstitutionen lassen. Man sucht nach Transparenz, man sucht nach den wichtigsten Mechanismen, die doch die Freiräume schaffen können. Und der dritte Schritt ist mit der Autonomie in allen Bereichen der Bildungsinstitutionen verbunden, dass diese Autonomie auch in allen Bereichen der Bildung hergestellt sein sollte. Und dann denken wir, man macht diese drei Schritte und dann denkt man über den Plan der Reformen nach und das braucht natürlich Zeit.

Für uns ist es auch sehr wichtig, eine konsolidierte Position zu erreichen und deswegen braucht man die Einbeziehung von Bürgerinnen in diesem Prozess der Besprechung. Die Idee von unserer Gruppe ist, dass die technischen Empfehlungen, wie man das macht, nicht so wichtig sind. Das wichtigste ist Konsens in der Gesellschaft, wie man jetzt das Bildungssystem anders sieht. Und ich denke, vielleicht ist diese Idee jetzt Konsens in Bezug darauf, was der belarussische Staat wird. Bleibt der belarussische Staat sozial, wie wir es jetzt in unserer Verfassung haben und was soll das bedeuten? Zurzeit haben wir mit der Erosion des sozialen Staats zu tun und viele sagen, ja wir wollen den sozialen Staat im Sinne von Lukaschenko nicht, deswegen verzichten wir auf den sozialen Staat an sich. Und das ist natürlich ein Fehler. Es gibt eine ganze Reihe von solchen Fragen, die mit grundsätzlichen Prinzipien verbunden sind. Belarus als Rechtsstaat, was bedeutet das genau? Diese Prinzipien, Pluralismus. Ich denke, dass in allen Bereichen der Reformen erst diese Prinzipien erarbeitet werden sollten und es sehr wichtig ist, dass die breitesten Kreise der Gesellschaft, der Bürgerinnen verstehen was Rechtsstaat, sozialer Staat, Pluralismus, diese wichtigsten Prinzipien bedeuten.

Und dann die technischen Sachen, wie man das verwirklicht. Dann, wenn man schon ein Verständnis hat, dann soll man die Instrumente finden und lösen, wie man das verwirklicht.

Haben Sie den Eindruck, dass Sie für diese Anliegen, die Sie formulieren, für diese Ideen, für dieses Projekt, für Ihre Empfehlungen, haben Sie da auch Ansprechpartner in der Regierung? Gar nicht wahrscheinlich.

Ja. In der Regierung sind die Leute geblieben, die einfach gehorsam sind. Aber in Ministerien gibt es natürlich gute und vernünftige Leute.Einige Leute sind weggegangen, aber es gibt Leute, die versuchen im Schatten zu bleiben. Jetzt haben wir diese Zeit, dass viele Leute, dass Protest und Widerstand auch darin besteht, dass Leute nicht an den Entscheidungen des Staates teilnehmen.

Was wünschen Sie sich, was könnten andere Länder, meinetwegen speziell Deutschland oder andere Länder der Europäischen Union, tun, um diesen Prozess zu unterstützen?

Vor allem sollten die Belarussinnen wirklich Partnerinnen sein. Manchmal werden Entscheidungen getroffen, zum Beispiel von der Europäischen Kommission, ohne dass Belarussinnen daran teilnehmen. Man sollte die Entscheidungen unbedingt mit belarussischen Partnerinnen treffen. Und auch mit denen, die im Ausland sind, aber vor allem unbedingt, mit denen, die im Lande sind. Das ist meine erste Idee. Meine zweite Idee ist, dass man nach verschiedenen Instrumenten sucht. Es gibt keine Entscheidungen, wie man hilft, also keine vorgefertigten Entscheidungen. Und das Dritte sind vielleicht – ja, es geht jetzt auch um Sanktionen. Die belarussische Gesellschaft zeigt, dass sie für diese Sanktionen, wirtschaftliche Sanktionen, bereit ist und ich würde sagen, wenn schon die Gesellschaft und die verschiedenen Gruppen sagen, wir sind bereit dafür, dann sollten auch die europäischen Länder darauf beharren, mit diesen Sanktionen weiter zu gehen.

Allerletzte Frage liebe Olga Shparaga. Belarus im Jahr 2025 oder 2030, was ist das für ein Land? Wenn Sie es sich wünschen könnten, wie sähe Belarus im Jahr 2030 aus?

Ich sehe dort ein demokratisches Land mit aktiven Bürgerinnen, die wirklich durch verschiedene Möglichkeiten der Selbstorganisation und lokale Gemeinschaften auf ihrem verschiedenen Niveau weiter aktiv sind und bleiben. Viele im Büro, in NGOs, in einer entwickelten kulturellen Szene und Politikerinnen unter der Kontrolle der Gesellschaft und in der Zusammenarbeit mit der Gesellschaft. Diese Mechanismen fehlen in unseren Nachbarländern des postsowjetischen Raumes, wo Politik durch die Korruption verwickelt und von der Gesellschaft getrennt ist. Das wünsche ich Belarus nicht. Ich wünsche mir, dass wir diese Probleme überwinden, dass Politikerinnen wirklich »kleine Politikerinnen« werden, die sehr nah an den aktiven Bürgerinnen sind. Das würde ich unserem Land wünschen. Und auch Zusammenarbeit mit anderen Ländern. Ich denke, dass Internationalisierung und diese internationale Zusammenarbeit, die jetzt unter schwierigen Bedingungen entsteht, sehr wichtig für die Zukunft ist.

Vielen Dank liebe Olga Shparaga für das Gespräch.

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Geschichte ist Gegenwart! Der History & Politics Podcast der Körber-Stiftung

Warum Geschichte immer Gegenwart ist, besprechen wir mit unseren Gästen im History & Politics Podcast. Wir zeigen, wie uns die Geschichte hilft, die Gegenwart besser zu verstehen.

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