Ilko-Sascha Kowalczuk: 30 Jahre Mauerfall – und nun?

Geschichte ist Gegenwart! Der History & Politics Podcast der Körber-Stiftung

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Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde

Ilko-Sascha Kowalczuk: 30 Jahre Mauerfall – und nun? Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde

Vor 30 Jahren wurde die Mauer geöffnet und damit die Grenze, die Deutschland über 40 Jahre teilte. 1990 erfolgte die Wiedervereinigung. Doch wie geeint ist Deutschland? Welche imaginären Mauern sind geblieben? Welche verschwunden? Im Podcast zieht der Berliner Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk eine (Zwischen-)Bilanz.

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Heiner Wember: Die reale Mauer durch Deutschland wurde vor 30 Jahren geöffnet. Wir wollen heute, eine Generation später, darüber sprechen, welche imaginären Mauern geblieben oder verschwunden sind, ob sich neue Mauern bilden in Deutschland. Eine wichtige Stimme dazu kommt von Ilko-Sascha Kowalczuk, Historiker aus Berlin. In der DDR war Ilko-Sascha Kowalczuk unter anderem Pförtner und konnte erst nach 1989 Geschichte studieren. Er publizierte unter anderem zum Aufstand am 17. Juni 1953, zur historischen Deutungshoheit der DDR-Geschichte, und zur friedlichen Revolution von 1989. In den kommenden 25 Minuten wollen wir besprechen, wo wir heute stehen, was uns eint und trennt, wie es weitergehen kann. Dabei sind Unterschiede zwischen Ost und West weiterhin klar erkennbar. Zum Beispiel sind in höheren Ämtern in Politik, Wirtschaft, Verwaltung auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung Ostdeutsche noch immer unterrepräsentiert. Herr Kowalczuk, es gibt die Forderung nach einer Ostquote. Was halten Sie denn davon?

Ilko-Sascha Kowalczuk: Also ich bin ein entschiedener Gegner von der Ostquote. Ich bin an sich ein Befürworter von Quoten, nämlich dann, wenn man Strukturen und Machthierarchien verändern muss, die sich gewissermaßen nicht von allein verändern. Also insofern bin ich immer ein großer Befürworter der Frauenquote gewesen. Bei einer Ostquote gibt es ganz praktische Fragen, die sich meines Erachtens nicht so ohne weiteres beantworten lassen, und die einfachste ist: Wer ist eigentlich heutzutage ein Ostdeutscher?

Ihre Kinder kämen fast schon nicht mehr in Frage, sie sind ja in Berlin groß geworden.

Ja, aber nicht nur. Wir haben ja auch eine Weile in Bayern gelebt, da sind sie in Bayern zur Schule gegangen. Also da haben die auch andere Erfahrungen gesammelt. Und heute müsste man eben sagen: Wer ist eigentlich ein Ostdeutscher? Was macht man mit den Kindern, bei denen der Vater aus Risa und die Mutter aus Pforzheim kommt, ganz egal, wo die dann aufgewachsen sind? Dahinter steht ja die Frage: Wie löst man das Elitenproblem, das zu wenig Eliten in Deutschland sich mit einem ostdeutschen Hintergrund gewissermaßen präsentieren? Ostdeutsche sind unterrepräsentiert bei den Eliten mit vielen Folgen dabei. Das muss in der Tat gelöst werden, aber es geht eben nicht über eine Quote. Wir haben, glaube ich, vor 30 Jahren alle geglaubt, dass das viel schneller gehen würde, dass es viel schneller keine Bedeutung mehr haben würde. Aber es hat immer noch eine Bedeutung und es wird nach aller Voraussicht nach auch noch eine Weile eine Bedeutung haben. Das, was ich unter ostdeutsch verstehe, ist eher ein gemeinsamer Erfahrungsraum, der eben vor 1990 durch eine sehr hohe Homogenität, zum Beispiel in der Bildung oder in den sozialen Chancen und so weiter, in den politischen Partizipationsmöglichkeiten, gebildet worden ist. Und da ist es dann letztendlich auch egal, ob man Vernehmer oder Verhörter war, aber man ist gewissermaßen in einem ähnlichen Erfahrungsraum groß geworden, der eben auch bis heute prägt.

Und dann gibt es noch etwas, was in dieser Perspektive sehr leicht übersehen wird, nämlich die Tradition, die Diskurse, die wir alle mit uns rumschleppen, die viel älter sind als unser eigenes Leben. Sprich, wir haben nicht nur den Rucksack aus der SED-Diktatur mit auf dem Rücken, oder aus der Bundesrepublik, je nachdem, wo man herkommt, sondern eben auch aus der NS-Diktatur, aus der Weimarer Republik und bis zurückgehend ins 19. Jahrhundert, so Stichworte wie Antisemitismus, wie Nationalismus, wie Illiberalismus. Das sind alles Traditionsräume, die eben eine viel längere Geschichte haben, die teilweise ungebrochen im Osten fortwirken und die wir als Rucksack mit uns rumschleppen und wie man das jetzt in der Gegenwart teilweise mit großer Brachialität auch bestaunen muss.

Sie beschreiben in Ihrem Buch, dass etwa 85 Prozent aller Werktätigen in der DDR ein sehr geordnetes Leben hatten, von der Wiege bis zur Bahre, bis hin zum Ferienheim, Kinderhort sowieso, dass es eine geschlossene Welt war, in der es eine Rundumversorgung gab.

Arbeitsgesellschaft DDR meinte eben nicht nur, dass die Arbeit zentriert im Mittelpunkt steht, sondern auch alle Sozialbeziehungen drum herum, halt alle kulturellen Beziehungen drum herum. Also dazu gehörten die Kinderbetreuung, dazu gehörten die Gesundheitsvorsorge, dazu gehörte die Rentnerbetreuung, dazu gehörte Urlaubsplanung, Urlaubsdurchführung. Also alle Bereiche des sozialen Lebens, Bibliotheken waren da mit eingebunden, bis hin zur Familie, Liebe, Sexualität. Alles wurde mit Arbeit verbunden, war darüber organisiert, war so auch strukturiert. Und durch den Zusammenbruch des Wirtschaftsstandorts DDR sind eben nicht nur ab dem ersten Juli 1990 Tag für Tag 10.000 Arbeitsplätze verloren gegangen, binnen kürzester Zeit haben ein Drittel der Ostdeutschen ihren Arbeitsplatz verloren, sondern eben auch all diese sozialen und kulturellen Beziehungen brachen zusammen. Und wenn man das aus so einer Vogelperspektive betrachtet, dann muss man sagen: Das eine war, dass die Menschen ihre Arbeit verloren haben. Das war ein harter Schlag. Aber das, was von langfristigen Folgen höchstwahrscheinlich viel bedeutungsvoller war, das war dieser Zusammenbruch dieses gesamten Arbeitsumfeldes, dieser Sozialbeziehungen, der sozialen Positionen, der kulturellen Positionen, die die Leute hatten.

Frauen hatten einen hohen Anteil an der Erwerbstätigkeit, haben auch in die Rente eingezahlt, aber es gab auch massive Benachteiligungen, zum Beispiel keinen Versorgungsausgleich, dass sie im Scheidungsfall allein für ihre Kinder aufkommen mussten.

Und deswegen waren die eigentlichen Verliererinnen in der ersten Phase des Transformationsprozesses die Arbeiterinnen, weil, die sind als erste ausgegliedert worden, genauso wie die Arbeiter. Aber anders als die Arbeiter haben die Arbeiterinnen keinen neuen Job gefunden, weil das mehr oder weniger strukturell in dem neuen Wirtschaftssystem, so wie es aus der Bundesrepublik übernommen worden ist, gar nicht vorgesehen war. Und insofern war das eben auch für viele Frauen eine enorme Herausforderung, sich ihren neuen Platz in der Gesellschaft erst mal zu suchen, zu erarbeiten, zu erkämpfen, muss man ja sagen.

Nordrhein-Westfalen hat eine höhere Arbeitslosenquote als der Durchschnitt der ostdeutschen Länder. Die Strukturprobleme sind enorm. Rein von den Fakten her stehen die Ostdeutschen ja gar nicht mal so schlecht da. Sie sagen, es sind nicht so sehr die Fakten, sondern es ist die Mentalität, die mentale Herausforderung.

Wir müssen feststellen, die Arbeitslosigkeit im Osten ist in den letzten fünf, zehn, 15 Jahren enorm nach unten gegangen, ohne dass signifikant mehr Arbeitsplätze geschaffen worden sind. Es sind überhaupt keine neuen Arbeitsplätze geschaffen worden. Und wie ist das also zustande gekommen? Durch zwei Prozesse, und die machen die Sache eben dramatisch. Durch Abwanderung, deswegen gibt es vergleichsweise mehr leere Flächen in Ostdeutschland als woanders, selbst als in Nordrhein-Westfalen, aber eben auch mehr als in Schleswig-Holstein. Und das zweite ist, weil immer mehr Menschen aus den offiziellen Statistiken herausgefallen sind, weil sie nun mittlerweile im Rentenalter sind. Also insofern können solche Statistiken, die Sie gerade erwähnt haben, die Politik beruhigen, gesellschaftspolitisch geben sie keinen Anlass, dass man gewissermaßen sagt: Das ist ja alles im Lot. Das ist es eben nicht.

Wir sprachen schon über die Frauen. Heute stellen wir fest, dass es gerade bei den jungen Menschen im Osten eine übermannte Gesellschaft gibt, wesentlich mehr Männer als Frauen. Warum ist das so, und was hat das zur Folge?

Es gab ja einen hohen Abwanderungsdruck auch nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit. Man geht davon aus, dafür sind jetzt Statistiken auch wieder gut geeignet, dass noch 1998 ungefähr 1, 5 Millionen Menschen im Osten weniger lebten als 1991. Und wenn man jetzt sich noch überlegt, wie viele Millionen Menschen in den Jahren und Jahrzehnten zuvor Ostdeutschland verlassen haben, und das waren weiß Gott nicht immer die Schlechtesten, sondern das waren oft hochqualifizierte Leute, da muss man natürlich fragen: Wer war denn das in den 90er Jahren? In den 90er Jahren sind die Leute gegangen, weil es keine Arbeit gab, weil es keine Ausbildung gab. Und hier schlug sich, glaube ich, eine Folge sozusagen der Gesellschaftspolitik in der DDR nieder, nämlich dass die Frauen, anders als in der Bundesrepublik und vor allen Dingen länger als in der Bundesrepublik, und also demzufolge mental schon verankerter, wirtschaftlich auf eigenen Füßen standen. Sie waren schon viel länger unabhängiger von den Männern, daher auch höhere Scheidungsquoten und viele andere Dinge, die man ins Feld führen kann. Und insofern gab es eine viel höhere Bereitschaft, dorthin zu gehen, wo es Arbeit gibt, dorthin zu gehen, wo man eine Zukunftsperspektive hatte. Und das führte dann tatsächlich dazu und bis zum heutigen Tage, dass es einen Männerüberschuss in vielen Regionen, insbesondere ländlichen Regionen, in Ostdeutschland gibt. Wenn man gerade bei den Jüngeren schaut, also bei den zwischen 20- und 30-jährigen, da sieht man dann doch eklatante Differenzen zwischen Männern und Frauen. Und das zeigt eben, dass die Frauen nach wie vor eher bereit sind, abzuwandern, weil sie mobiler sind. In den letzten zwei, drei Jahren gibt es so eine leichte Umkehrbewegung, dass es also auch eine leichte Zuwanderungsbewegung in den Osten gibt. Die ist jetzt nicht so signifikant, die wird medial oft so ein bisschen überhöht dargestellt. Zeigt zumindest, dass dieser Abwanderungsprozess zurzeit offenbar gestoppt wird. Allerdings muss man auch sagen, statistisch gesehen wird der auch nur sozusagen gestoppt, weil es so Zuwanderung gibt in den Speckgürtel von Berlin und in solche boomenden Gebiete wie Leipzig, wie Jena, wie Dresden. Die kompensieren gewissermaßen die sonstigen Abwanderungsbewegungen, die es immer noch gibt, aus den ostdeutschen Flächenländern.

Eine Gruppe haben wir noch vergessen, die Rentner. Die Altersarmut wird sowieso ein Problem. Das wird im Osten auch stärker werden als im Westen.

Absolut.

Weil?

Hier schlägt sich nun praktisch in den nächsten Jahren voll der Transformationsprozess nieder, weil die Leute, die jetzt in Rente gehen fast alle eine gebrochene Erwerbsbiografie haben. Selbst wenn sie in Lohn und Brot standen, dann haben sie weniger in die Rentenkassen einzahlen können, weil einfach die Löhne und Gehälter im Osten viele Jahre weitaus geringer waren als im Westen. Und insofern wird es also hier tatsächlich also eine große Altersarmut geben. Und da muss die Politik schleunigst handeln.

Die Nachbarländer aus dem ehemaligen Ostblock, Polen und Tschechien, wie haben sie die Transformation geschafft?

Also ich bin mir immer noch nicht so im Klaren darüber, ob man sagen muss: Zum Glück oder die hatten Pech, dass sie kein Westpolen hatten oder kein Westtschechien oder kein Westungarn oder Westslowakei. Dieser Zusammenbruch dieser ostdeutschen Wirtschaft, der erfolgte ja dann so radikal weil das bundesdeutsche System nach dem 1. Juli 1990 übertragen worden ist. Und das war der Nachteil im Vergleich zu unseren ostmitteleuropäischen Nachbarn. Dort ging das alles schrittweise, das hat man etwas behutsamer angehen lassen. Auf der anderen Seite, es kam eben nicht nur das bundesdeutsche Wirtschaftssystem nach Ostdeutschland, sondern eben auch das bundesdeutsche Sozialsystem. Und das hat das enorm abgefedert. Diese Abfederung gab es nirgendwo in Ostmitteleuropa. All diejenigen, die dort gewissermaßen hinten runterfielen, die fielen eben auch wirklich ins Uferlose. Das ist so in Ostdeutschland nicht passiert. Insofern sieht man hier große Differenzen.

Sie sehen in den ostdeutschen Bundesländern ja so etwas wie ein Globalisierungslabor, eine Art Melting Pot, wo man schon alles sehen kann, was auf uns zukommt. Warum?

Zwei Dinge sind da interessant. Das eine: Wir haben in Ostdeutschland eine Transformationserfahrung zu beobachten gehabt, die vor allen Dingen von einem unglaublichen Tempo begleitet war. Wenn wir jetzt aber praktisch auf den Westen schauen, dann beobachten wir dieses Tempo ganz ähnlich. Wenn wir noch mal zurückschauen, der Übergang von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft in der Bundesrepublik hat ungefähr 25 Jahre gedauert. Für die DDR hat man den gleichen Prozess praktisch über Nacht gemacht. Also Wissenschaftler sprechen davon, dass das ungefähr zwei bis drei Jahre gedauert hat, was also in der Bundesrepublik 25 Jahre gedauert hat. Dieses unglaubliche Tempo hat natürlich viel mit den Menschen gemacht, mit der Gesellschaft gemacht, und jetzt beobachten wir so was Ähnliches. Wir befinden uns inmitten eines rasanten gesellschaftlichen Veränderungsprozesses, den wir immer so mit dem Schlagwort Globalisierung zusammenfassen. Wir haben dafür weder die richtigen Begriffe, noch haben wir das richtige analytische Instrumentarium dafür. Wir stehen eigentlich alle auch so ein bisschen atemlos da drin und schauen irgendwie, was passiert. Und mit dem Osten passiert gewissermaßen innerhalb einer Generation oder innerhalb von zwei Generationen so ein rasanter Wechsel das zweite Mal. Und da ist meine These, würde ich behaupten wollen: Dadurch, dass der Ostler das eben auch einmal schon in diesem Tempo erlebt hat, reagiert er jetzt bereits erfahren darauf. Wir können beobachten, dass das die Menschen dieses Tempo und sozusagen der allumfassende Anspruch dieser Globalisierung, einfach überfordern. Und ein Ergebnis dieser Überforderung ist Populismus. Populismus, und zwar egal, ob links oder rechts. In den 90er und Nuller Jahren war der Populismus im Osten ja von links. Und seit ein paar Jahren kommt er von rechts. Aber es gibt eine gemeinsame Klammer. Die gemeinsame Klammer lautet: Der Populismus nimmt die Zukunftsängste der Leute sehr ernst, und sagt: Okay, wir sind da, wir wollen euch helfen, diesen Übergang abzumildern. Wir haben das Rezept, das Rezept liegt hinter euch. Schaut euch um, in der Vergangenheit gab es schon mal einen Zustand, da habt ihr euch sicher, wohl gefühlt, da wart ihr sozusagen zufrieden. Und in den Zustand wollen wir euch zurückbringen, und das ist unsere Zukunft. Und das haben die Postkommunisten im Prinzip mit der Verklärung der DDR gemacht und das macht jetzt die AfD und ihre Leute ganz so ähnlich, indem sie zum Beispiel konstruieren, es hätte mal einen homogenen Volkskörper gegeben . Das sind also ganz ähnliche Argumentationsstrategien, die dahinterstehen. Und beides sind aber Reaktionen gewissermaßen auf Einflüsse von außen, auf Einflüsse der Globalisierung. Und jetzt kann man eben sehen, wie die ostdeutsche Gesellschaft darauf reagiert. Und gegenwärtig muss man sagen, mindestens ein Viertel reagiert so, dass man sorgenvoll in die Zukunft schauen muss.

Was sollten wir denn anders machen?

Eine Sache wäre wichtig. Dass im öffentlichen Raum die öffentliche Sprache eine andere wird. Ich glaube, das ist ganz wichtig. Und da sind eigentlich alle gefordert. Natürlich zuallererst Politiker und Politikerinnen, aber auch Journalistinnen und Wissenschaftler, alle Menschen, die im öffentlichen Raum stehen und agieren. Dass die Sprache ausdrückt, was man wirklich meint, dass sie sozusagen der Gesellschaft zugewandter ist und dass dieses typische Politikersprech, diese Floskeln, dieses, womit man ja irgendetwas immer nur zudeckeln will, dass das irgendwie aus dem öffentlichen Raum zunehmend verschwindet. Ich habe aber den Eindruck: Umso größer die Ratlosigkeit, umso mehr nimmt dieses Blasensprech zu. Darauf kann man kein Vertrauen aufbauen. Und Vertrauen ist ein wesentlicher Kitt der Demokratie. Eine Diktatur braucht kein Vertrauen. Eine Diktatur hat eine Geheimpolizei und deswegen braucht sie kein Vertrauen. Aber eine Demokratie baut ganz wesentlich auf Vertrauen auf. Gerade die repräsentative Demokratie, die gerade im Osten und in den postkommunistischen Staaten auf so große Skepsis stößt, auch deshalb, weil es viele dort nicht verstanden haben, weil es vielen dort auch nicht erklärt worden ist, was repräsentative Demokratie eigentlich heißt. Und ich glaube, das ist so ein ganz wichtiger Punkt, im Gespräch auch wieder Vertrauen aufzubauen und irgendwie auch aus diesen ganzen Hass-Ecken rauszukommen, die diese Gesellschaft ja mittlerweile so stark fragmentieren, dass das ja teilweise auch körperlich kaum zu ertragen ist.

Die Begriffe Freiheit und Demokratie werden nicht hoch gehandelt in Ostdeutschland.

Na ja, da haben Sie vollkommen Recht. Das Problem ist, dass diese Werte im Westen auch fallen. Das ist eher besorgniserregend, dass also insgesamt die Zustimmungswerte zu der repräsentativen Demokratie, zum Parlamentarismus abnehmen. Im Osten, muss man dazu sagen, hat das aber natürlich eine andere Vorgeschichte als im Westen. Es gab so einen Mythos, alle wären gegen die SED gewesen, alle hätten die Revolution gemacht und dann hätten alle die deutsche Einheit gewollt. Das ist eben ein Mythos. Also Revolution wird niemals von allen gemacht, sondern dann müsste man fragen: Wenn alle dabei sind, gegen wen eigentlich? Und auch in der DDR war das so: Es gab eine Minderheit, eine kleine Gruppe von Leuten, die die Revolution gemacht haben im August, September, Oktober. Die einen sind abgehauen, die anderen haben auf der Straße demonstriert und haben sich in neuen Organisationen wie dem Neuen Forum zusammengeschlossen. Und dann gab es eine kleine Gruppe, die das System verteidigt hat und die große Masse stand hinter der Gardine und wartete ab. Und das ist ganz normal, immer bei Revolutionen so. Das ist nichts Ungewöhnliches. Und dann fiel die Mauer durch die Revolution und auf einmal haben ganz viele Menschen ganz neue Zukunftserwartungen gehabt, auch übersteigerte Zukunftserwartungen, in denen bereits der tiefe Fall in den 90er Jahren vorprogrammiert war. Und nun passierte etwas, worüber viel zu wenig gesprochen wurde. Die Menschen sind praktisch in ein neues politisches System gespült worden, ohne dass ihnen das jemals jemand erklärt hätte. Sie kamen in eine repräsentative Demokratie, in einen Rechtsstaat, in einen freiheitlichen Staat, ohne dass ihnen jemand die Institutionen, die Verfahrensweisen, das Regelwerk erklärt hätte. Und wenn man in so ein neues System kommt, dann sind ganz häufig die Ersterfahrungen, die man mit dem neuen System hat, nicht unerheblich. Und für Millionen Menschen im Osten waren die Ersterfahrungen mit diesem neuen System alles andere als erfreulich. Das waren Erfahrungen mit Institutionen, die sie bisher in ihrer Biografie gar nicht kannten. Arbeitsämter, Sozialämter, Sozialgerichte, neuen Vermietern etc. Und viele fielen gewissermaßen ins soziale, dichte Netz. Aber diese Erfahrungen waren auch nicht die besten Voraussetzungen, um eine neue Identität oder auch eine Identifikation mit dem neuen System aufbauen zu können. Und darunter, also unter diesen Anfangsstartschwierigkeiten, leidet praktisch seither die Zustimmung zur parlamentarischen Demokratie, zur repräsentativen Demokratie, zur Freiheit, zum Rechtsstaat. Und das vererbt sich mittlerweile in Ostdeutschland. Und das scheint mir ein großes Problem zu sein.

Es ist auch vielfach davon berichtet worden, dass, wenn gerade kleinere Kinder irgendwie ihre Eltern nach ihrer Vergangenheit gefragt haben, warum sie jetzt einen neuen Beruf haben, warum sie jetzt keine Uniform mehr anziehen, warum sie das und das nicht machen, dass da oft mit eiskaltem Schweigen drauf geantwortet wurde, weil die Eltern also auch gar keine richtigen Antworten hatten, was sie dazu sagen wollten. Also da gab es ein großes Schweigen, das ist vielfach beschrieben worden. Und ich bin mir ganz sicher, das wird eines Tages auch aufbrechen. Wir wissen alle bloß noch nicht, wie. Wir glauben immer, dass das alles so passieren muss wie 68. Aber 68 heißt 68, weil es 68 war.

Es gibt in der Europäischen Union eine Unterscheidung zwischen ehemaligen Ostblockländern und den ehemaligen Westländern. Und die Tendenz zu mehr Autorität, die man eher sieht in den östlichen EU-Staaten, auch die Affinität zum Beispiel zu Russland, ist das so, dass diese Grenze durch Deutschland verläuft?

Das würde ich auch so sagen. .Diese Staatsgläubigkeit, in der DDR ist die abverlangt worden, die ist im Nationalsozialismus abverlangt worden. Die Weimarer Republik hat da nicht so wahnsinnig viel im Koordinatensystem verändern können. Und davor im Kaiserreich in verschiedenen Staaten, gerade in Mecklenburg oder in Preußen oder in Sachsen, Thüringen, das waren auch diesbezüglich ganz anders orientierte Staaten als Baden zum Beispiel, mit einer ganz anderen liberalen Tradition. Und das lebte fort, wurde gefördert und ist dann 1989, 90 auch nicht gebrochen worden. Da ist der eine starke Staat, der wankte und den man gerade mit den Füßen davon gejagt hat, durch einen anderen starken Staat ersetzt worden, jedenfalls in der Mentalität der Menschen. Und die haben gesagt: Okay, jetzt haben wir einen anderen starken Staat und der wird schon alles für mich richten, der ist für mein Seelenheil verantwortlich. Und das ist in Ostdeutschland besonders extrem gewesen, aber wenn man heute in unsere ostmitteleuropäischen Nachbarstaaten schaut, dann ist das überall ein ähnliches Phänomen. Und von dort her ist es dann natürlich nur noch ein kleiner Schritt zu sagen: Okay, das, was der Putin in seinem Staat macht, weil, der ist nun der Ausdruck des autoritären, neuen Staates, dass ich das irgendwie unterstütze, dass ich das toll finde, da ist der Schritt irgendwie naheliegend. Und insofern ist das auch überhaupt nicht überraschend, dass die AfD und die Linkspartei sich genau hier an diesem Punkt, in der Anbetung des Putin‘schen Systems, gewissermaßen treffen. Und da kann man immer nur sagen: Zeigt mir eure außenpolitischen Positionen und ich kann euch sagen, was, wenn die mal an die Macht kommen, uns innenpolitisch droht.

Letzte Frage an Sie: Ihr Buch heißt „Die Übernahme". Ist der Titel von Ihnen?

Ja, ist ja mein Buch.

Trifft er denn?

Na ja, er provoziert natürlich, gar keine Frage. Und er trifft nicht, wenn man sich nur die Phase anschaut, was 89, 90 abgelaufen ist. Da trifft das nicht. Aber wie dann der Einigungsprozess, der Transformationsprozess ablief, da ist das schon, glaube ich, ein sehr passendes Bild. Leider.

Ist das Interesse groß an Ihrem Buch?

Ja.

Ist das ein gutes Zeichen?

Das ist eine gute Frage, muss ich sagen. Also als Autor und als Mensch, der sozusagen davon profitiert, finde ich das natürlich klasse. Als gesellschaftspolitischer Mensch, als jemand, der sich für die Gesellschaft interessiert, ist Ihre Frage wirklich nicht schlecht, weil, da müsste ich natürlich sagen: Ist wahrscheinlich eher ein schlechtes Zeichen.

Herr Kowalczuk, vielen Dank für das spannende Gespräch.

Bitte schön, vielen Dank.

Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk ist Mitglied der Bundesjury des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten in der Wettbewerbsrunde 2018/19 zum Thema »So geht’s nicht weiter. Krise, Umbruch, Aufbruch«.

Literatur:
Kowalczuk, Ilko-Sascha: Die Übernahme: Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde, Verlag C. H. Beck, München 2019

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Warum Geschichte immer Gegenwart ist, besprechen wir mit unseren Gästen im History & Politics Podcast. Wir zeigen, wie uns die Geschichte hilft, die Gegenwart besser zu verstehen.

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