Anastasia Burakova

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„Die größte Herausforderung ist die Unfähigkeit, den verbrecherischen Krieg in der Ukraine zu beenden und Putin zu stoppen, der Russland in den Abgrund reißt.“

Anastasia Burakova ist Menschenrechtsanwältin, ehemalige Koordinatorin des Open Russia Human Rights Teams und Mitbegründerin des Projekts United Democrats, das unabhängige Kandidat:innen bei Kommunalwahlen in russischen Regionen unterstützte. Im November 2021 verließ sie Russland wegen politisch motivierter Verfolgung und zog in die Ukraine. Im März 2022 rief sie das Projekt The Ark ins Leben, das russischen Emigrant:innen hilft, die wegen ihrer Antikriegsposition verfolgt werden und Antikriegs- und Medienprojekte unterstützt.

Frau Burakova, Sie haben sich viele Jahre als Anwältin für die Rede- und Versammlungsfreiheit in Russland eingesetzt. In dieser Funktion haben Sie oppositionelle Politiker:innen und Journalist:innen vor Gericht verteidigt. Was hat Sie dazu bewogen?

Wie viele Menschen in meinem Alter bin ich 2011 während der Welle der Massenproteste gegen Wahlfälschungen in die Politik gegangen. Apathie und Nichtbeteiligung sind die am weitesten verbreiteten Probleme in der russischen Gesellschaft und es ist eine gezielte Politik des Kremls, diese Apathie zu fördern. Die Beteiligung am politischen Leben wurde von der Propaganda und staatlichen Vertreter:innen ständig an den Rand gedrängt. Der Kern der Aussage war: „Misch dich da nicht ein, dafür gibt es spezielle Leute, die wissen es besser, das geht dich nichts an.“ Diejenigen, die im Laufe der Jahre trotz des Drucks nicht aufgegeben haben, brauchten Schutz und Unterstützung. Ich kann nicht sagen, dass die Arbeit als Anwältin in einem autoritären Land ohne unabhängige Justiz eine leichte Aufgabe ist. Abgesehen von Druck, Propagandaattacken und stigmatisierenden Bezeichnungen wie „ausländische Agent:innen“ und „unerwünschte Personen“ gibt es auch ein berufliches Burnout – wenn man einen Fall übernimmt, realisiert man, dass die Chance, einen politisch motivierten Fall zu gewinnen, minimal ist.

Aber der Gang vor Gericht bietet die Möglichkeit, an Dokumente zu kommen und diese zu veröffentlichen, eine Chance, das wahre Gesicht des Systems zu enthüllen. Und hart erkämpfte Siege vor Gericht stärken uns: So gelang es uns beispielsweise, das Recht auf Versammlungsfreiheit für die Teilnehmer:innen der Maidemonstration in St. Petersburg nach einer brutalen Niederschlagung der Proteste zu verteidigen, eine Verleumdungsklage des Oppositionspolitikers Andrej Piwowarow und der unabhängigen Medien „Nowyje Iswestija“ gegen das Innenministerium zu gewinnen, den vollständigen Wortlaut des Gerichtsurteils über den Eigentümer der Gruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, zu erhalten und seinen kriminellen Hintergrund aufzuklären und uns unter anderem um die Einleitung von Strafverfahren gegen Wahlfälscher:innen im russischen Kaukasus bemühen.

Sie mussten Russland im Jahr 2021 verlassen. Wenn Sie auf Ihren beruflichen Werdegang zurückblicken, wie haben sich das Land und die Aktivitäten der Opposition in den Jahren vor der russischen Invasion von 2022 entwickelt? Wie hat sich dies auf Ihr Leben und Ihre Arbeit ausgewirkt?

Der Spielraum für politische und menschenrechtliche Aktivitäten wurde von Jahr zu Jahr kleiner: Die Gerichte wurden zunehmend parteiisch, die verabschiedeten Gesetze schränkten die verfassungsmäßigen Rechte immer mehr ein und die Hürden für die Teilnahme an Wahlen wurden immer höher. Solange es jedoch auch nur kleine Möglichkeiten gab, versuchten wir alles in unserer Macht Stehende zu tun: die Rechte der Menschen zu verteidigen und sie durch Kommunalwahlen in die Politik und das öffentliche Leben einzubinden sowie die internationale Isolierung der Zivilgesellschaft durch den Kreml zu überwinden. Im Jahr 2021 begann ein groß angelegter Angriff auf die Zivilgesellschaft: auf politische Bewegungen, Menschenrechtsorganisationen, unabhängige Medien und unabhängige Forscher:innen, die sich mit Erinnerungskultur auseinandersetzen. Tausende von Menschen wurden entweder aus Russland ausgewiesen oder verhaftet. Damals dachten wir, dass sich der Kreml auf die Wahlen vorbereitet. Es stellte sich jedoch heraus, dass er sich für einen blutigen und verbrecherischen Krieg bereit machte und dies die Vorbereitungen für die Invasion innerhalb Russlands waren. Die deutlichen Stimmen, die sich Putins Aggression entgegengestellt hätten, wurden vorsorglich zum Schweigen gebracht.

Was macht für Sie heute die russische Opposition im Exil aus? Wo findet sie statt und womit befasst sie sich?

Entgegen der Darstellung des Kremls, die Emigrant:innen und die Menschen im Land seien zwei getrennte monolithische Gruppen, sehe ich die Situation anders. Viele Aktivist:innen, Menschenrechtler:innen, Journalist:innen und Menschen, die nicht politisch aktiv waren, sich aber gegen den Krieg aussprachen, waren gezwungen, das Land zu verlassen, weil ihnen lange Haftstrafen für ihre Engagement und Äußerungen gegen den Krieg drohten. Es gibt jedoch viele mutige Menschen, die trotz strenger Zensur und verfassungswidriger Gesetze in Russland weiterkämpfen. In Kovcheg (Die Arche) versuchen wir, den Kontakt zu Menschen in Russland nicht zu verlieren: Wir haben etwa eine halbe Million Kontakte, von denen sich rund 40 % in Russland befinden.

Wir helfen Gleichgesinnten im Lande so gut wir können und unterstützen Antikriegsinitiativen im In- und Ausland. Jahrelang hat der Kreml eine Mauer zwischen der weltweiten demokratischen Gemeinschaft und der russischen Zivilgesellschaft errichtet, indem er Gesetze gegen „ausländische Agent:innen“, unerwünschte Organisationen erließ und internationale Kontakte diskreditierte. Jetzt ist es wichtiger denn je, mit der gesamten demokratischen Welt an einem Strang zu ziehen, um den wahnsinnigen Diktator im Kreml zu stoppen, der jeden Tag Menschen in der Ukraine tötet, Dissident:innen in Russland inhaftiert und eine Bedrohung für den gesamten Kontinent darstellt.

Welche Rolle spielen die Exilländer, zum Beispiel Georgien? Wie ist das Verhältnis zwischen den Exilant:innen und den lokalen Gesellschaften?

In den Ländern, die Russland umgeben, wie Georgien und Armenien, hat sich die größte Gemeinschaft von Russ:innen gebildet, die gegen den Krieg sind – mehr als in jedem anderen europäischen Land. Das sind mehrere tausend Menschen, die jeden Tag gegen die Kreml-Propaganda arbeiten, ukrainischen Geflüchteten helfen, das Netzwerk von Aktivist:innen innerhalb Russlands unterstützen, die Wahrheit über Kriegsverbrechen und den Krieg verbreiten, aufklären, wie man mit Menschen kommuniziert, die von der Propaganda beeinflusst werden, Putins Einflussnetzwerke in Europa und anderen Ländern untersuchen und vieles mehr. Diejenigen, die gegen den Krieg und Putins verbrecherisches Regime sind, wissen um den Druck des Kremls auf diese Länder und kennen den Schmerz und das Leid, das Putins Politik verursacht hat. Russ:innen helfen, humanitäre Hilfe für die Bewohner:innen der Besatzungszonen in Georgien zu sammeln und wenden sich öffentlich gegen die imperialistische Politik des Kremls gegenüber den Nachbarländern.

Mit Ihrer Organisation Kovcheg unterstützen Sie politische Geflüchtete, aber auch Menschen in Russland. Was sind die größten Herausforderungen bei Ihrer Arbeit? In welchen Situationen befinden sich die Menschen, denen Sie helfen?

Die größte Herausforderung ist die Unfähigkeit, den verbrecherischen Krieg in der Ukraine zu beenden und Putin zu stoppen, der Russland in den Abgrund reißt. Wir bemühen uns nach Kräften, aber es ist schwer, etwas zu erreichen. Dank Kovcheg finden jedoch immer mehr Menschen, Hunderttausende von Russe:innn, die Kraft, wieder auf die Beine zu kommen, zu handeln, Teil der Antikriegs- und Bürger:innenbewegung zu werden, Gleichgesinnte zu treffen und Teil der globalen demokratischen Gesellschaft zu werden. Neben den humanitären Aspekten legt Kovcheg großen Wert auf die Gemeinschaftsbildung, die Integration in die internationale Zivilgesellschaft – durch gemeinsame Veranstaltungen, das Erlernen von Fremdsprachen und die Unterstützung russischer Antikriegsinitiativen, von denen es inzwischen über 270 gibt. Wir versuchen auch, das Narrativ zu widerlegen, dass der Kreml den Russ:innen seit Jahren eintrichtert: „Kein Putin – kein Russland“: Im Rahmen der Plattform „Mit dem ersten Flug“ bereiten wir eine neue Generation von Menschen vor, die ein demokratisches Russland aufbauen können, das das Völkerrecht und seine Bürger:innen respektiert. Wir entwickeln einen Reformfahrplan, um den Russe:innen zu zeigen, wie ein normales Russland aussehen kann.

Welche Rolle spielt der Krieg gegen die Ukraine für die Opposition im Exil? Ist es möglich, über Russland zu sprechen, ohne über diesen Krieg zu reden?

Ich kann mir nicht vorstellen, wie man vom Krieg abstrahieren und ohne diesen Kontext über Putins Russland sprechen kann. Jeden Tag werden in der Ukraine Menschen durch russische Raketen und durch das Militär in den besetzten Gebieten getötet. Der Kreml bedroht die Nachbarländer mit Atomwaffen. Russlands Wirtschaft ist auf Kriegsökonomie umgestellt worden und der Lebensstandard der Bevölkerung sinkt. Putin treibt sozial schwache Bevölkerungsschichten in den Krieg und die Propaganda schafft in der Gesellschaft eine Atmosphäre des Hasses. All dies sind miteinander verknüpfte Prozesse. Und dieser Krieg wird sich auf Jahrzehnte hinaus auf die Zukunft Russlands und ganz Europas auswirken.

Die russische Opposition wurden gezwungen, das Land zu verlassen, sie ist in russischen Gefängnissen inhaftiert oder von massiven Repressionen betroffen. Welchen Einfluss hat die Opposition im Exil überhaupt? Wie stark sind die Verbindungen zwischen denen, die das Land verlassen haben und denen, die noch immer täglich Repressionen ausgesetzt sind?

Die Auswanderung ist eine erzwungene Maßnahme. Die Entscheidung trifft jede:r für sich; viele mutige Menschen, die sich gegen Putins Regime gestellt haben, sind jetzt in Russland inhaftiert: Wladimir Kara-Murza, Andrey Piwowarow, Ilja Yaschin, Alexej Nawalny, Alexej Gorinow und viele andere. Außerhalb Russlands sind wir natürlich alle deutlich schwächer und können kaum als vollwertige Akteure betrachtet werden: Die Teilnahme an Wahlen ist nicht möglich und die Verwendung der Logos der meisten Organisationen oder Spenden an sie können zu strafrechtlicher Verfolgung führen. Im Wesentlichen können wir von anderen Ländern aus der Propaganda entgegenwirken, die Wahrheit über das verbrecherische Regime verbreiten, mit westlichen Partner:innen zusammenarbeiten, den wegen ihrer Haltung Verfolgten helfen und die Opfer des Krieges in der Ukraine unterstützen. Wir können sprechen, ohne befürchten zu müssen, dass wir am nächsten Tag durchsucht werden. Das ist keine vollwertige politische Beteiligung, aber in totalitären Regimen ist das Fenster der Möglichkeiten immer klein.

Wenn Sie an ein zukünftiges Russland in 10 Jahren denken, wie sieht es dann aus? Was muss in Politik und Gesellschaft geschehen, damit dies möglich wird?

Derzeit ist der Planungshorizont auf Monate oder sogar Wochen geschrumpft. Es ist unwahrscheinlich, dass ein:e Russ:in 10 Jahre im Voraus denken kann. Totalitäre Regime brechen jedoch unerwartet zusammen und wir müssen auf diesen Moment vorbereitet sein. In Kovcheg haben wir das Projekt „Mit dem ersten Flug“ ins Leben gerufen, bei dem wir über demokratische Institutionen aufklären, uns mit Erfahrungen aus aller Welt vertraut machen und gemeinsam mit Expert:innen und Teilnehmer:innen Reformfahrpläne entwickeln.

Derzeit nehmen über 1.500 Menschen an dem Projekt teil, die sich am Aufbau eines neuen, demokratischen und nachbarschaftssicheren Russlands beteiligen wollen. Wir brauchen mehr solcher Menschen, um diejenigen zu ersetzen, die in das derzeitige System integriert sind und nicht wie in den 1990er Jahren mit der „alten sowjetischen Nomenklatura“ zu enden. Diese warf ihre Parteibücher und sprach dann von Demokratie und freiem Markt sprach. Da kein politischer Wettbewerb herrschte, konnten sich ideologisch geprägte Personen nicht in eine demokratische Richtung entwickeln und ihre Plätze wurden von loyalem Personal des Putin-Regimes eingenommen.